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Gaby Kuhn: Alles neu – oder doch nicht?

13-02-2018, 06:19

Ein Baum, seine Zweige, dessen Wurzeln – in der Mitte der Stamm. Darunter Worte, die mir nicht aus dem Kopf wollten: "Der Baum ist fest im Boden verankert, er wächst weiter, breitet sich aus, strebt nach oben. Trotzdem muss er biegsam sein, um nicht im Sturm zu brechen." Meine Shiatsu-Praktikerin hatte mir das Bild vom biegsamen Baum mitgegeben, als ich, wieder einmal, mit Kreuzweh auf ihrer Matte gelandet war: "Bist du wieder verspannt! Das wird ja immer schlimmer. Wie wär’s mit mehr Beweglichkeit?" Ich sagte nichts, dachte nur: "Autsch." Und: "Ja, eh." Dann fuhr ich nach Hause und fragte mich, was das bitteschön mit mir zu tun haben soll. Denn natürlich empfand ich mich auf meine Weise als flexibel, elastisch und biegsam. Aber irgendwas, irgendwas stimmte nicht (mehr). Zeit, einen genauen Blick zu tun. Und hinzuschauen.

Nonstop-to-do-Modus

Einen Tee und zwei Mannerschnitten später saß ich da und dachte nach. Verankert fühlte ich mich, mit beiden Beinen am Boden sowieso. Ich war gewachsen, strebte nach oben. Man nennt das Karriere. 23 Berufsjahre lang. Aber, klar, stimmt: Das mit der Biegsamkeit war ein bisserl auf der Strecke geblieben. Nix Schlechtes. Tagesabläufe und Strukturen gaben mir jene Sicherheit, nach der ich mich einst gesehnt hatte. Fixer Arbeitsbeginn, Meetings, Abgabetermine, am Ende des Monats Geld am Konto. Schließlich war ich Managerin geworden, im Nonstop-to-do-Modus. Doch hoppla: Ursprünglich hatte ich doch als Journalistin einfach nur schreiben wollen. Das war der Punkt. Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde: Um biegsamer zu werden, müsste ich genau das ändern, mich aus meiner Führungsposition lösen, mich aus Strukturen befreien. Platz machen. Ein schwieriger Prozess begann.

Neue Selbstständige

Ich hatte Glück. Mein Umfeld – vom Partner bis zum Arbeitgeber – unterstützte diesen Wunsch. Es fügte sich. Im Herbst vergangenen Jahres war es so weit: Mehr als zwei Jahrzehnte als Angestellte waren Geschichte, nun sollte ich unter dem sperrigen Begriff "Neue Selbstständige" firmieren. SVA, Einkommenssteuer, Buchhaltung. Egal. Herzlich willkommen im Leben als freie Autorin und Kolumnistin. Allseits Applaus, viele meinten: "Wow, toll!" Jemand sagte: "Mutig, in dem Alter." Ich, knapp 57, empfand vor allem eines: Frische. Aufbruch. Saß am griechischen Strand und malte mir das Leben azurblau. Doch dann. Dann kam ich mir selbst in die Quere. "Es sind nicht die äußeren Umstände, die das Leben verändern, sondern die inneren Veränderungen, die sich im Leben äußern", heißt es in einem Aphorismus der Publizistin Wilma Eudenbach. Vielleicht hätte ich den eine Spur früher lesen sollen – um ihn mir, samt Baum-Biegsamkeitsbild auf der Zunge zergehen zu lassen. Zu Tee. Und Schnitten. Oder zu drei Achteln Weißwein.

Durchatmen

Aber so. So passierte, was passieren musste: Derselbe Zirkus, derselbe Clown (ich, nämlich), die alten Zwänge. Und damit viele alte Hausgeister, die mir in mein neues Leben gefolgt waren. Die "Angstmacherin" ("Du schaffst das nicht"), die "Antreiberin" ("Mach was! Mach mehr! Mach alles!"), die "Sofortistin" ("Mach’s jetzt und keinesfalls später") und die Hauptdarstellerin namens "Perfektionistin" ("Mach’s noch besser!"). Oscarreif! Sie alle nahmen mich an der Hand und hatten verdammt viel Spaß damit, mir jeden Tag eine neue Falle zu stellen. Es funktionierte. In Siebenmeilen-Boots und innerhalb von vier Tagen hatte ich mein neues Büro eingerichtet, ein neues Handy, einen neuen Internetanschluss organisiert. Ich war, wie so oft, schnell unterwegs, atemlos, ratzfatz. Eine Freundin meinte: "Sag, möchtest du nicht einmal ein bisschen durchatmen. Es anders machen als sonst?

Perfektionismus

In den Nächten dazwischen träumte ich von unbezahlten Rechnungen und ausbleibenden Aufträgen. Im Drehbuch meiner Tage gab es keinen Punkt mehr, kein Komma, keine Pause. Das Wort "nein" hatte aufgehört zu existieren. Alles was ich tat, stand unter dem Gesichtspunkt: Es geht besser! Schließlich ist Perfektionismus ein Laster, das wunderbar in die Zeit der Selbstoptimierung und Leistungsfixierung passt. Mein Rücken begann erneut zu schmerzen. Mehr denn je. Eines nachts eine – richtig: schnelle – Drehung, anderntags konnte ich mich kaum mehr rühren. Die falsche Bewegung zur falschen Zeit. Rien ne va plus. Ich fühlte mich nicht wie ein Baum, sondern wie Sperrmüll.

Leistungskorsett

Seither sind mehr als zwei Monate vergangen. Langsame Monate, in denen ich lernen musste, jedes Tun zu reflektieren. Es sind Wochen intensiven Lernens. Denn natürlich habe ich kapiert, dass das bisschen Übermalen nicht reicht, um ein neues Bild zu erschaffen. Neue Farbe, neues Leben? Was für ein Missverständnis. Ich erinnere mich an all die Momente, in denen ich sagte: "Nein, das geht nicht anders, weil ..." Hatte stets perfekte Argument parat und hunderte Gründe, um nichts wirklich verändern zu müssen. Stattdessen wurschtelte ich weiter, mir stets eine Nasenlänge voraus, unter Druck, hochbeschleunigt. Dabei merkte ich gar nicht mehr, wie ich meinen Körper und meinen Geist in ein Leistungskorsett zwang, und dabei vergaß, auf meine natürlichen Rhythmen zu achten. Jeden Morgen fiel mir ein, dass ich Sport machen sollte. Und sofort fiel mir ein Argument ein, es doch nicht zu tun. "Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe", heißt es. Es war allerhöchste Zeit für einen Weg. Meinen Weg.

Imperfektionstoleranz

Den gehe ich jetzt. Oder sagen wir: Ich versuche es. Zögerlich, noch unsicher. Immer wieder in alte Muster kippend. Ich frage mich täglich, wie das Leben aussehen soll, von dem ich geträumt habe. Und komme mir dabei wie ein Navi vor, das die Route seines Tuns stündlich neu berechnen muss. Der Autopilot ist aus. Damit stellen sich auch viele Fragen und schmerzhafte Erkenntnisse tauchen auf. Woher kommt der Druck in mir? Weshalb ist der innere Kritiker, der mich (und andere) so forderte, dermaßen groß und stark? Was treibt mich an? Wohin mit mir? Im Buch "Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird" habe ich das schöne Wort "Imperfektionstoleranz" gelesen. Die übe ich jetzt. Heißt was? Das heißt etwa an einem Arbeitstag aufzustehen, und zu sagen: Heute muss nix! Es bedeutet, Tempo rauszunehmen, nein zu sagen, nachzulassen. Und es bedeutet, Grenzen zu setzen. Vor allem mir selbst.

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