Ihr Arbeitszimmer im zehnten Stock des EU-Kommissionsgebäudes ähnelt eher einer Galerie als einem nüchternen Büro: Moderne Gemälde an der Wand, unzählige gerahmte Familienfotos – und in der Mitte von Margrethe Vestagers Glastisch steht ein Stinkefinger aus Gips. "Er soll mich täglich daran erinnern, dass nicht alle Leute mit mir übereinstimmen", erzählt die EU-Wettbewerbs-Kommissarin aus Dänemark lachend im Interview mit internationalen Journalisten, darunter der KURIER.
Zu jenen, die Vestagers Standpunkt nicht teilen, gehört auch Österreichs Regierung. Wien kündigte in der Vorwoche an, gegen die EU-Kommission und deren Entscheidung zu klagen, wonach Ungarn mit staatlichen Beihilfen das Atomkraftwerk Paks ausbauen darf.
KURIER: Wie wird die Kommission auf diese Klage reagieren?
Margrethe Vestager:Bei Fällen wie diesem in Paks sind wir stets sehr vorsichtig, weil es immer ein Risiko gibt, dass die Energiemärkte gestört werden, wenn man so einen großen Spieler einbringt. Schon vor einem Jahr, als wir zu unserer Entscheidung kamen, hat Österreich eine Klage angekündigt. Jetzt ist es so weit, das ist das gute Recht der Regierung. Jede Entscheidung von uns kann vor Gericht angefochten werden. Aber wir bereiten unsere Fälle so gut vor, dass sie einer Überprüfung vor Gericht standhalten werden und wir werden uns verteidigen.
Sie erwarten also zu gewinnen?
Ja, das tun wir.
Als Wettbewerbshüterin muss es Sie mit Sorge erfüllen, wenn IT-Giganten wie Google und Co wachsen und wachsen, die guten Ideen von Start-ups aufkaufen und letztlich die Konsumenten dafür büßen werden?
Das ist eine präzise Beschreibung unserer Sorgen in Bezug auf den ersten Google-Fall. Google hat seine marktbeherrschende Stellung als Suchmaschinenbetreiber missbraucht, indem es seinen eigenen Preisvergleichsdienst einen unrechtmäßigen Vorteil verschafft hat. (Die EU verhängte eine Strafe von 2,42 Milliarden Euro, Anmkg). Die Folge dieses illegalen Verhaltens war zu wenig Innovation. In den meisten europäischen Ländern hat Google einen Marktanteil von 90 Prozent. Wenn man bei so einer Werbefläche nicht gefunden wird, wieso würde man dann als Firma in Innovation investieren? Es ist sehr wichtig, dass es einen offenen Markt gibt, auch wenn man den Markt dominiert. Andere sollen dich herausfordern können.
Aber ist die Tatsache, dass viele Start-ups sich in Europa nicht realisieren lassen, nicht auch eine Frage von zu vielen Regulierungen in den 28 EU-Staaten?
Spotify ist nach Europa zurückgekommen. Aber lassen Sie mich dazu sagen: Es ist nicht nur das Regelwerk, sondern auch eine Frage des Kapitals. In den USA gibt es sei Jahrzehnten ein integrativeres Wirtschaftssystem, wo Unternehmer, Kapital und Erfinder auf viel dynamischere Weise zusammenkommen. Wenn man hingegen in Europa mehr Kapital braucht, geht man meistens zur Bank und macht noch mehr Schulden. Unser Kapitalmarkt in Europa ist nicht ausreichend diversifiziert.
Als Wettbewerbskommissarin sind Sie so viel bekannter als die meisten anderen EU-Kommissare. Liegt das am Namen ihrer Gegner – Apple, Amazon usw.?
Über Prominenz kann ich nichts sagen (sie lacht) – aber die Aufgabe der Hüterin des Wettbewerbsrechts ist wichtiger als je zuvor, vor allem in Zeiten wachsender Machtkonzentration. Die Leute fragen sich: Wer achtet darauf, dass der Markt ihnen dient, sodass sie die Möglichkeit haben, auszuwählen. Darüber hinaus geht es auch darum, dass nicht viele, sondern alle Unternehmen Steuern zahlen. Apple, Starbucks, Fiat – das sind Beispiele, wie es genau nicht laufen soll. Diese Unternehmen hatten Vorteile, die für die anderen Unternehmen im jeweiligen Land nicht galten. Da geht es also nicht um nationale Steuerhoheit, sondern um unfairen Wettbewerb: Die meisten Unternehmen müssen zahlen und dabei im Wettbewerb mit jenen bestehen, die keine Steuern zahlen.
Haben Sie die Macht, die IT-Firmen zur Nachzahlung ihrer von der Kommission aufgebrummten Strafen zu zwingen?
Amazon, Fiat, Starbucks, und 35 Unternehmen in Belgien haben diese Steuern bereits nachgezahlt. Bei Apple, das Irland die ausstehenden Steuern nachzahlen muss, ist der Fall speziell. Es ist natürlich etwas anderes, 13 Milliarden Euro zu zahlen als 50 Millionen. Sowohl Apple als auch Irland haben Einspruch eingelegt.
Wie kann man herausfinden, welche Steuerdeals zwischen Unternehmen und Staaten geschlossen wurden?
Billigere Grundstücke, oder weniger Steuern, das war immer ein Geheimnis. Der Apple-Fall wurde von meinem Vorgänger eröffnet, aber erst, nachdem der US-Senat Fragen stellte. Davor wusste niemand, wie Apple organisiert ist. All die Leaks, Lux-Leaks, Panama-Papers, Paradise-Papers, Swiss-Leaks ... das waren sehr wichtige Schritte vorwärts. Wir können unseren Job nicht machen, wenn alles geheim ist.
Zur Person: Margrethe Vestager
Die EU-Wettbewerbskommissarin ist freundlich im Ton, aber knallhart in der Sache: Die Kommissarin aus Dänemark zeigte den Tech-Giganten Apple, Amazon und Co. in Europa ihre - steuerlichen - Grenzen auf und verdonnerte sie zu Rekordstrafen. Vom zupackenden Stil der sozialliberalen Politikerin (49) ließ sich die dänische Polit-Serie „Borgen“ inspirieren. Vestager, Tochter einer Pastorenfamilie, ist verheiratet und Mutter dreier Töchter.