Kurzer Blick zur Seite, dann herzhaft zugebissen: Venezuelas Präsident Nicolás Maduro wurde von den TV-Kameras eingefangen, wie er eine Teigtasche verschlingt. In dem hungergeplagten Land sorgt das für Empörung.
Dazu muss man wissen: In vier schweren Krisenjahren haben die Bürger laut Umfragen im Schnitt 8,6 Kilogramm an Gewicht verloren. Dabei war Venezuela dank seines Ölreichtums 1950 das viertreichste Land der Welt – gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf. Jetzt steht die Staatspleite kurz bevor.
Warum droht Venezuela gerade jetzt die Pleite?
Foto: AP/Ariana Cubillos Die Not und der Mangel an Auslandswährungen sind seit Jahren eklatant, die Regierung hatte bisher aber penibel alle Zinsen und Schulden bedient. Jetzt scheint die Staatskasse endgültig leer. Die Gold- und Währungsreserven sind unter 10 Mrd. Dollar gefallen. Vor wenigen Tagen kündigte Maduro an, man wolle die Schulden "restrukturieren". Die ausländischen Gläubiger wurden für diesen Montag, 13. November, zu Verhandlungen nach Caracas eingeladen. Zeitgleich entscheidet in New York ein Gläubigerausschuss (ISDA, International Swaps and Derivatives Association), ob ein Zahlungsausfall und somit eine Pleite vorliegt.
Um wie viel Geld geht es?
Die Verbindlichkeiten durch Staatsanleihen und Schulden des staatlichen Ölriesen Petróleos de Venezuela (PDVSA) werden auf 89 Mrd. US-Dollar geschätzt. Dazu kommen andere Hilfskredite, was den Schuldenberg auf 155 Mrd. Dollar erhöht – es wäre sicher die größte Pleite Südamerikas seit Argentinien 2001. Üblicherweise würden alte Schuldtitel gegen neue Papiere getauscht, wobei die Geldgeber auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten.
Wie sind die Aussichten auf eine solche Einigung?
Gering. Weil Trump im August Sanktionen verhängt hat, dürfen US-Banken an so einem Deal gar nicht teilnehmen. Noch dazu leitet just Vizepräsident Tareck El Aissami, dem US-Ermittler Kokain-Schmuggel vorwerfen, die Umschuldungskommission. Das macht den Amerikanern die Teilnahme an den Verhandlungen fast unmöglich. Beobachter fragen sich deshalb, ob es Maduro auf ein Scheitern angelegt hat.
Wo könnte sonst noch frisches Geld herkommen?
Der Internationale Währungsfonds (IWF) scheidet als Krisen-Feuerwehr aus, denn Venezuela hat die Zusammenarbeit 2007 eingestellt. Früher hatten China und Russland oft aus der Patsche geholfen. So hatte China im letzten Jahrzehnt gut 50 Mrd. Dollar Hilfskredite im Gegenzug für Öllieferungen gewährt. Und auch die Russen könnten sich so einen Zugriff auf die weltgrößten Ölvorkommen sichern und den USA eins auswischen.
Was passiert, wenn es keine Lösung gibt?
Dann müsste Venezuela die Zahlungsunfähigkeit erklären. Eine chaotische Pleite und jahrelange Prozesse wären vermutlich die Folge. Gläubiger würden nämlich im Ausland alles beschlagnahmen, was sich zu Geld machen lässt. Während es da bei Argentinien wenig zu holen gab, liegt bei Venezuela vieles auf dem Präsentierteller; etwa Citgo, eine 100-Prozent-Tochter von PDVSA, die in den USA Raffinerien betreibt und mehr als 5000 Tankstellen beliefert. Dazu kommen Öltanker und die Rohöllieferungen, die abgefangen werden könnten.
Warum haben Investoren noch Geld verliehen, obwohl die Pleite absehbar war?
Die simple Antwort: Weil es ein fabelhaftes Geschäft war. Die Papiere waren spottbillig und der Staat hatte Zinsen von an die 10 Prozent anstandslos bezahlt, ungeachtet der humanitären Krise im eigenen Land. Das rächt sich jetzt für viele Spekulanten.
Was ist der Grund für die Dauerkrise?
Venezuela hatte sich völlig vom Öl abhängig gemacht. Der von 1998 bis zum Tod 2013 regierende Volkstribun Hugo Chávez hatte dabei das Glück einer langen Phase hoher Ölpreise. Mit üppigen Sozialprogrammen beförderte er sich zum Held der Armen und verstaatlichte (und ruinierte) hunderte Unternehmen. Als die Ölpreise sanken, fielen die Staatseinnahmen – auf zuletzt nur noch ein Drittel des Wertes von 2012.
Müssten bei einer Pleite auch Österreicher um ihr Geld bangen?
Vermutlich ja, denn Venezuela-Anleihen sind in vielen Schwellenländer-Fonds vertreten. Und: Österreichische Firmen sitzen nach Aufträgen in Venezuela auf unbeglichenen Rechnungen in Höhe von rund 100 Millionen Euro – viele sind schon drei oder vier Jahre alt. Jetzt wird es immer unwahrscheinlicher, dass sie beglichen werden.
Der US-Starökonom und UN-Sonderbeauftragte Jeffrey Sachs ist seit Jahrzehnten ein gefragter Berater, wenn Länder in Krisen schlittern.
KURIER: Wie ließe sich die humanitäre Krise und Staatspleite in Venezuela jetzt lösen?
Jeffrey Sachs:Venezuela ist ein tragisches Beispiel für jene Spielart des lateinamerikanischen Populismus, die immer im Bankrott an sich reicher Staaten endet. Hugo Chávez hat in der Phase der hohen Ölpreise die Reserven verbraucht. Als die Preise dann sanken, fiel das Land leider in die Hände des noch schlimmeren Führers Nicolás Maduro – ein verantwortungsloser Gauner, der sich nur noch mit militärischer Hilfe und mit Gewalt an der Macht hält.
Was könnte die Lösung sein?
Ich sehe keine, bevor Venezuela nicht diese extrem populistische und antidemokratische Regierung loswird. Das Letzte, das die Welt brauchen würde, wäre freilich ein US-unterstützter Staatsstreich. Ich hoffe sehr, die USA sind entgegen ihrer fürchterlichen Tradition clever genug, sich dieses Mal rauszuhalten.
Foto: KURIER/Jeff Mangione
Sie haben 1985 Bolivien in einer ähnlichen Misere beraten. Ist die Regierung der Unterschied?
Absolut, das kann man nicht vergleichen. Wenn jemand wie Chávez ans Ruder kommt, den nur das Umverteilen interessiert, die Produktion hingegen keinen Deut, endet das immer mit der Pleite. Das ist der lateinamerikanische Weg, den ich seit gut 30 Jahren beobachte.
Auch ein Schuldennachlass würde da nichts verbessern?
Ich dränge seit Jahrzehnten auf Schuldennachlässe, aber nur als Teil eines Deals, der die Probleme löst – nicht, solange ein Gauner auf der anderen Seite sitzt. Ein Zahlungsmoratorium wird es wohl geben, weil Venezuela kein Geld hat. Aber ein ausverhandelter Verzicht? Ausgeschlossen, das hätte Maduros Regime nicht verdient. Venezuela ist nicht arm, sondern katastrophal verwaltet.
Könnte sich daraus eine Schwellenländerkrise erwachsen?
Nein. Dieses Szenario zeichnet sich in Venezuela seit 20 Jahren ab. Die Situation ist schlimm, wird aber keine Ansteckung verursachen.
Auf 720 Prozent schätzt der Economist die Teuerungsrate der venezolanischen Währung Bolivar. Wie lebt es sich mit so einer Hyperinflation? Die jüngste Erhöhung der Mindestlöhne um 30 Prozent reiche bei Weitem nicht aus, um die Preissprünge aufzuwiegen, sagt Alexander Solar, der für Österreichs Außenwirtschaft die Stellung in Caracas hält. Die Kaufkraft der Menschen sinkt rasant.
Bar-Zahlungen sind selten geworden, daran ändert auch ein neuer 100.000-Bolivar-Geldschein nichts. Bankomaten werden gar nicht mehr befüllt. Bei der Bank sind Geldbehebungen mit 10.000 Bolivares pro Tag gedeckelt. Das entspricht auf dem Schwarzmarkt gerade einmal 25 Cent, jede Taxifahrt kostet mehr. Gezahlt wird also mit Karte – sofern die Zahlungssysteme funktionieren. Schlange stehen und Warten sind in Venezuela zwei Grundtugenden.
Wer Dollar hat, ist König Die Versorgung mit Alltagsgütern hat sich zuletzt gebessert, seit der Staat die Preise nicht mehr so rigide kontrolliert. Kritisch sei es bei Medikamenten, sagt Solar. Antibiotika oder Impfungen gibt es, aber nur auf Dollarbasis. Reiche Menschen erhalten fast alles; für Normalbürger sind solche Dinge unleistbar.
Die Preise für Sprit, Handyverträge, Strom oder Wasser sind staatlich diktiert und spottbillig. Ein Mobilfunkvertrag kostet umgerechnet einen Euro im Monat. Die Kehrseite: Weil die Betreiberfirmen nichts investieren, verfällt die Infrastruktur. Ein defekter Funkmast bleibt defekt, das Handynetz wird immer schlechter. Die Wasserversorgung fällt aus, weil Pumpen nicht repariert werden. Ein Drittel der Busflotten steht still, weil es an Ersatzteilen mangelt. Paradox: Das ölreichste Land der Welt hat zeitweise keinen Sprit.
Die ärmsten Menschen überleben dank der staatlichen Versorgung mit Zucker, Mehl und Reis. Teilweise werden Produktionsfirmen gezwungen, dafür Kontingente abzutreten. Die Nahrungspakete, Jobs in Staatsbetrieben und günstigen Wohnungen sind wichtige Machtinstrumente für Maduro. Bei Protesten gegen die Regierung sind seit April mehr als 120 Menschen ums Leben gekommen.