logo



[email protected]

Die Regierung erwartet ein sozialpoliti­sches Minenfeld

30-10-2017, 06:00

Es gibt kaum ein Thema, bei dem die ideologischen Bruchlinien zwischen FPÖ und ÖVP auf der einen und der rot-grünen Wiener Stadtregierung auf der anderen Seite so scharf verlaufen wie bei der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS). Während in Ländern wie NÖ und OÖ zuletzt empfindliche Kürzungen beim Sozialgeld vorgenommen wurden, sieht Wien, das bundesweit die Hauptlast trägt, auch bei der geplanten Neuregelung (sie gilt voraussichtlich ab Jänner) von Reduktionen ab. Stattdessen setzt man auf Maßnahmen, die die Bezieher so rasch als möglich in den Arbeitsmarkt integrieren sollen.

Vor allem die ÖVP wird nicht müde, sich auf das Wiener Modell einzuschießen: Die höheren Geldleistungen würden dazu führen, dass die Bundeshauptstadt ein Magnet für Sozialtourismus werde, die Kosten drohten völlig aus dem Ruder zu laufen.

Einig sind sich die Parteien nur in einem Punkt: Die beste Lösung wäre eine bundesweit einheitliche Regelung der BMS. Entsprechende Bemühungen der rot-schwarzen Bundesregierung sind aber im Vorjahr gescheitert.

 

Geht es nach der ÖVP, soll die Mindestsicherung österreichweit für eine Bedarfsgemeinschaft mit 1500 Euro gedeckelt werden. Für Asylberechtigte sieht das Konzept der Türkis/Schwarzen eine "Mindestsicherung light" vor: Der Anspruch auf den vollen Bezug soll erst nach fünf Jahren rechtmäßigem Aufenthalt geltend gemacht werden können, die Höhe der BMS in den Jahren davor 560 Euro pro Einzelperson betragen.

Die FPÖ geht noch einen Schritt weiter: Die BMS soll nur für Österreicher ausgezahlt werden. Zuwanderer, die noch nie in das System eingezahlt haben, würden damit nur die Grundversorgung erhalten, und diese soll vermehrt Sachleistungen beinhalten. Die NEOS fordern eine Residenzpflicht, um eine gerechtere Verteilung der BMS-Bezieher auf die Bundesländer zu ermöglichen. Weiters Regelungen, von denen Bezieher profitieren, die einen Job annehmen, sowie mehr Sachleistungen.

Arm und obdachlos

Auch Rot-Grün in Wien ist für eine bundesweite Lösung, Kürzungen und Deckelungen wie in OÖ oder NÖ kämen aber nicht in Frage, wie eine Sprecherin von Sozialstadträtin Sandra Frauenberger betont: "Dies führt nur zu Armut und Obdachlosigkeit. Wer nur 500 Euro zur Verfügung hat, kann sich in Wien kaum eine Wohnung leisten." Die negative Auswirkung von Kürzungen auf das Sozialsystem wären somit langfristig gravierender als die vermeintlichen Einsparungen.

Zwar räumt man ein, dass Wien eine gewisse Anziehungskraft auf Anspruchsberechtigte aus den anderen Bundesländern habe, von einem großen Ansturm könne aber keine Rede sein, betont man seitens der Stadt: Die Zahl der Bezieher in Wien habe sich nach starken Anstiegen in den Jahren 2015 und 2016 nun stabilisiert (siehe Grafik). Im August gab es 7151 Bezieher (davon 6377 Asyl- und Schutzberechtigte), die in den vorhergegangenen zwölf Monaten nach Wien zugezogen sind. Zum Vergleich: Im August 2016 waren es 6837 (5944).

Der Sozialwissenschaftler Bernd Marin tritt ebenfalls für eine bundesweit einheitliche Regelung ein. "Wobei man bei Sachleistungen die lokalen Gegebenheiten berücksichtigen muss. Etwa bei den Wohnkostenzuschüssen, weil die Mieten in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich hoch sind." Eine Anpassung des Sozialgeldes nach unten sieht der Experte aber problematisch. "Beispiel Deckelung der Leistungen mit 1500 Euro: Für eine Familie mit zwei bis drei Kindern kann sich das finanziell nicht ausgehen."

 

Für Marin gehen die Regelungen in NÖ und OÖ "in die falsche Richtung. Die Armutskonferenz hat aufgezeigt, dass die dortigen Maßnahmen nicht nur Asylberichtigte, sondern auch Inländer treffen."

Sogwirkung

Dass Wien eine Sogwirkung auf BMS-Bezieher ausübt, will auch er nicht bestreiten. "Sie hat aber nicht nur mit den höheren Geldleistungen zu tun. Vielmehr drängen Anspruchsberechtigte auch wegen der dortigen Anonymität in die Großstädte." Laut Marin ließe sich aber durchaus über eine vorübergehende Residenzpflicht für Flüchtlinge diskutieren. Weiters plädiert er für jegliche Maßnahme, die die Bezieher möglichst rasch wieder im Arbeitsleben integriert.

Zwiespältig sieht der Experte hingegen den Trend, statt Geld- vermehrt auf Sachleistungen zu setzen. "Gutscheine etwa bedeuten einen erheblichen bürokratischen Aufwand. Zudem ist auch bei Sachleistungen Missbrauch nicht völlig auszuschließen."

OÖ war Vorreiter bei der Kürzung der BMS für Asylberechtigte. Alle, die nach dem 1. Juli 2016 einen Anerkennungsbescheid bekommen, erhalten nur noch 560 Euro im Monat. Die Vorstellung der schwarz-blauen Landesregierung, sich damit viele Millionen Euro zu ersparen, ist nicht eingetroffen, zieht Soziallandesrätin Birgit Gerstorfer (SPÖ) einen ersten Schluss: 2016 gab es nur 30 Betroffene, was dem Land 20.000 Euro statt der erhofften sieben Millionen Euro ersparte. 2017 sind es 302 Betroffene, was eine Ersparnis von 145.000 Euro statt elf Millionen Euro bringt. "Die Prognosen über die Flüchtlingszahlen waren weit übertrieben", begründet Gerstorfer die Fehleinschätzung.

 

Schlimmer als die kaum sichtbaren Einsparungen ist die Wirkung auf den Arbeitsmarkt. Da gibt es zwei Effekte: Qualifizierung bleibt auf der Strecke, und in bestimmten Fällen wirkt die Kürzung sogar beschäftigungsfeindlich. Da man nämlich mit 560 Euro nicht einmal eine Wohnung bezahlen kann, leben diese Menschen oft in Wohngemeinschaften. Wenn einer von ihnen eine Arbeit aufnehme, werde den anderen die Mindestsicherung noch weiter gekürzt, sagt Gerstorfer.

Ines Schmidt, Vize-Chefin des AMS Oberösterreich, warnt vor der "Gefahr, dass die Qualifizierung leidet". Die Asylberechtigten würden in Hilfsarbeiterjobs gedrängt, die wenige Kenntnisse voraussetzten. "Studien zeigen, dass Pflichtschulabsolventen fünf Mal öfter von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Qualifiziertere. Das AMS OÖ hat daher ein Förderprogramm aufgelegt, das Lehrbetrieben einen Zuschuss gewährt, falls sie Menschen über 18 Jahren (Asylberechtigte und Österreicher) für eine Lehre einen Hilfsarbeiterlohn zahlen."

(J. Gebhard und I. Kischko)

Nachrichtenquelle


© 2017-2024 wienpress.at [email protected]