Nach monatelangem Streit über geplante Maßnahmen gegen Sozialdumping in Europa hofft der derzeitige EU-Vorsitz Estland für Montag auf einen Durchbruch. "Wir sind zuversichtlich, dass es möglich ist, heute eine Einigung zu erzielen", sagte der estnische Arbeitsminister Jewgeni Ossinowski am Montag vor Beratungen mit seinen EU-Kollegen in Luxemburg.
Auf dem Tisch liegt die Reform der sogenannten Entsenderichtlinie von 1996, die den Einsatz von Beschäftigten über Grenzen hinweg in anderen EU-Ländern regelt. Diese EU-Ausländer sollen künftig grundsätzlich genauso entlohnt werden wie einheimische Arbeitnehmer. Zudem sollen Entsendungen nur noch befristet möglich sein. Ob als Frist zwei Jahre oder nur eines vorgegeben werden soll, war zuletzt noch umstritten. Auch war noch offen, ob Lastwagenfahrer zunächst von den neuen Vorgaben ausgenommen werden sollen. Ossinowski sagte, zuletzt sei es gelungen, die Positionen anzunähern. Mit gutem Willen müsste ein Durchbruch gelingen, meinte er.
Gewerkschaften in westlichen Ländern wie Deutschland und Frankreich beklagen, dass unter zweifelhaften Bedingungen beschäftigte Arbeiter aus östlichen EU-Staaten ausgebeutet werden und damit Tarif- und Sozialstandards untergraben werden. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat die Reform der Entsenderichtlinie zum Topthema erklärt, auch um Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Osteuropäische Regierungen kritisieren indes, westliche Staaten wollten ihre Arbeitsmärkte abschotten.
Die EU-Staaten haben sich am Montag in Luxemburg außerdem hinter eine allgemeine Erklärung sozialer Rechte in Europa gestellt. Dies teilte EU-Kommissarin Marianne Thyssen nach ersten Gesprächen der EU-Sozialminister in Luxemburg mit. "Ein starkes Signal, dass wir die Bürger an erste Stelle stellen", schrieb Thyssen auf Twitter.
Die sogenannte Europäische Säule sozialer Rechte soll am 17. November bei einem EU-Gipfel in Göteborg unterzeichnet werden. Die gemeinsame Erklärung hatte die EU-Kommission im April vorgeschlagen. In drei Kapiteln und 20 Punkten werden darin soziale Rechte der Europäer aufgeführt: Bildung, Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Unterstützung bei der Arbeitssuche, faire Löhne, Sozialleistungen. Viele dieser Rechte gelten vielerorts schon heute, sie sollen aber noch einmal ausdrücklich festgeschrieben werden. Ziel ist eine Angleichung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in ganz Europa.
Für westliche Unternehmen erledigen sie preiswert Aufträge, für ihre Heimatländer sind sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Doch Gewerkschafter kritisieren "Ausbeutung" ausländischer Beschäftigter und Sozialdumping auf dem heimischen Arbeitsmarkt. Auf EU-Ebene sollen nun die Regeln verschärft werden, um Arbeitnehmer besser zu schützen. Im Mittelpunkt steht das Grundprinzip: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nach monatelangem Streit könnten sich die Sozialminister aus Deutschland und den übrigen EU-Ländern am Montag auf eine Reform der sogenannten Entsenderichtlinie einigen - wenn es ihnen gelingt, letzte Stolpersteine aus dem Weg zu räumen.
Grundsätzlich darf jeder in der EU arbeiten, wo er will, und Firmen dürfen überall ihre Dienstleistungen anbieten. Das gilt als wichtige Errungenschaft im gemeinsamen Binnenmarkt. Eine Baufirma aus Kroatien darf also ohne weiteres einen Auftrag in Österreich ausführen und dafür Mitarbeiter dorthin schicken. In der gesamten EU gab es 2015 nach offiziellen Angaben 2,05 Millionen entsandte Arbeitnehmer - 41,3 Prozent mehr als 2010.
Wirtschaftskraft, Sozialstandards und Löhne in den EU-Ländern sind sehr unterschiedlich. So lagen die Arbeitskosten - also Lohn und Nebenkosten - pro Stunde 2016 in Dänemark bei 42 Euro. In Bulgarien waren es 4,40 Euro. Das Gefälle birgt Konfliktpotenzial, weil Firmen aus Ländern mit geringen Löhnen und Sozialbeiträgen die Preise für Dienstleistungen in wohlhabenden Staaten unterbieten können.
Die EU-Entsenderichtlinie von 1996 sollte gegensteuern. Sie schreibt vor, dass Mindestlöhne im Aufnahmeland auch für entsandte Arbeitnehmer gelten - ebenso wie ein Mindesturlaubsanspruch und Standards für Höchstarbeitszeiten, Sicherheit und Gesundheitsschutz. Ein Kostenvorteil bleibt aber in jedem Fall: Sozialversichert sind die Mitarbeiter meist sehr preiswert im Heimatland.
Gewerkschafter halten das 20 Jahre alte Regelwerk für völlig unzureichend. Eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung spricht vom "Geschäftsmodell Ausbeutung" in einzelnen Branchen, darunter Pflege, Bau, Schlachthöfe und Transportgewerbe. So würden teils Mindestlohnsätze untergraben, weil den Beschäftigten Reisekosten oder überteuerte Mieten abgezogen würden. Überlange Arbeitszeiten würden verlangt, aber nicht bezahlt. Standards beim Gesundheitsschutz würden missachtet. Die Studie beschreibt teils kriminelle Machenschaften, die mit der Entsendung nicht unbedingt zu tun haben. Kritiker machen aber Schlupflöcher in den Regeln und mangelnde Kontrolle mitverantwortlich.
Unterm Strich verdienen entsandte Arbeitnehmer nach Angaben der EU-Kommission bisweilen nur die Hälfte der Entgelte von einheimischen Kollegen. Dies will die Kommission angehen: Künftig sollen für Entsandte und Einheimische grundsätzlich die gleichen Regeln zur Vergütung gelten. Also nicht mehr nur Mindestlohn, sondern auch Gehaltsbestandteile wie Weihnachtsgeld, Prämien, Schlechtwettergeld oder Ähnliches. Ziel seien gleiche Wettbewerbsbedingungen für entsendende und lokale Unternehmen, heißt es von der Kommission.
Die EU-Kommission hat eine Befristung von Entsendungen auf 24 Monate vorgeschlagen. Nach Ablauf der Frist müssten sich Arbeitnehmer dann im Aufnahmeland sozialversichern. Frankreich will nur zwölf Monate, was Deutschland mitträgt. Erwogen wird auch, das Transportgewerbe vorerst auszuklammern.
Die östlichen EU-Länder sehen die ganze Reform sehr skeptisch. Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände findet: "Die Regeln zur Entsendung sollten nicht verschärft werden. Sie sind für Unternehmen und Arbeitnehmer so gut, wie sie sind." Der Entwurf der EU-Kommission sei inakzeptabel und hochbürokratisch.
Sollten sich die EU-Sozialminister am Montag einigen, stehen Verhandlungen mit dem Europaparlament an, das einen eigenen Entwurf erarbeitet hat.