Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union leiten einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik ein. Beim EU-Gipfel zeichneten sich am Donnerstag folgende Stoßrichtungen ab: Flüchtlinge sollen künftig im Mittelmeer abgefangen und in Anlandezentren nach Nordafrika zurückgebracht werden. Der Schutz der Außengrenzen wird verstärkt. Offen bleibt die Frage der Flüchtlingsverteilung.
EU-Ratspräsident Donald Tusk verteidigte die geplante Verschärfung der europäischen Migrationspolitik an: "Wenn wir uns darauf nicht einigen, sehen wir einige wirklich harte Vorschläge von wirklich harten Typen." Die Alternative zu einem verstärkten EU-Außengrenzschutz und Flüchtlingszentren wären "chaotisch voranschreitende Grenzschließungen" innerhalb der EU, sagte Tusk vor Beginn des Europäischen Rats in Brüssel.
Trendwende in der Flüchtlingspolitik
"Ich glaube, dass es heute möglich ist, eine Trendwende in der Flüchtlings- und Migrationspolitik einzuleiten", meinte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Eine Einigung auf "Anlandeplattformen" könne wahrscheinlich gelingen. "Das ändert alles", so Kurz. Für Menschen werde es dadurch weniger attraktiv, sich illegal auf den Weg zu machen. "Es entzieht den Schleppern die Geschäftsgrundlage. Es kann dazu führen, dass wir endlich das Ertrinken im Meer beenden, weil sich die Menschen gar nicht mehr auf den Weg machen, und es beendet die Überforderung in Mitteleuropa."
Am deutlichsten wurde die Wende in der Migrationspolitik beim Auftritt der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auch sie kann sich nun "Seeanlandungen von Schiffen" in nordafrikanischen Ländern vorstellen. Nachsatz: "Man muss mit den Ländern sprechen. Wir müssen die Bedürfnisse dieser Länder in Betracht ziehen. Es sei in der Migration viel erreicht worden, jetzt gehe es darum, bei der den Anlandungen von Flüchtlingsschiffen in Nordafrika ähnlich wie beim EU-Türkei-Deal vorzugehen.
Der französische Präsident Emmanuel Macron plädierte für europäischen Lösungen. "Wollen wir nationale Lösungen oder glauben wir an europäische Lösungen? Ich verteidige europäische", sagte Macron vor Gipfelbeginn.
Italiens Ministerpräsident Conte wünscht sich Taten
Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte wünschte sich nicht Worte, sondern Taten. Conte möchte offenbar nicht mit leeren Händen nach Hause fahren. Via Twitter drohte er mit einem Veto seines Landes, sollte Italien beim EU-Gipfel keine Unterstützung beim Umgang mit Flüchtlingen bekommen.
Der niederländische Premierminister Mark Rutte meinte, dass man sich vor allem um das Problem der Primärmigration kümmern müsse. Danach werde es auch leichter sein, eine solidarische Lösung bei der Sekundärmigration innerhalb Europas zu finden, weil die Flüchtlingszahlen dann kleiner seien. Eine abschließende Einigung erwartet Rutte am Gipfel noch nicht. Auch Rutte forderte Abkommen mit afrikanischen Staaten nach dem Modell des Flüchtlingsdeals EU-Türkei.
Orbán verteidigt seine strikte Haltung in Migration
Ungarns Regierungschef Viktor Orban, der von manchen Medien bereits zum Sieger im seit 2015 schwelenden Flüchtlingsstreit mit Merkel erklärt wird, verteidigte seine strikte Haltung in der Migration. "Die Menschen verlangen zwei Dinge. Das erste ist: keine Migranten mehr, stoppt das. Das zweite ist: Bringt die zurück, die schon da sind", sagte Orban. "Um die europäische Demokratie wiederherzustellen, müssen wir in diese Richtung gehen. Ich hoffe, dass dies heute passieren wird."
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte dagegen im Zusammenhang mit den geplanten Flüchtlingszentren in Nordafrika vor einem "Neokolonialismus". Wenn es um solche Ideen gehe, dann "bitte ich um einiges an Zurückhaltung." Wenn die Botschaft ist, "dass die Afrikaner das zu tun haben, was wir wollen, wird das schief gehen. Ich bin in Kontakt mit diesen Regierungen. Die mögen nicht fremdbestimmt werden". Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini teilte unterdessen mit, dass sie wegen der Anlandezentren bereits in Kontakt mit der UNO stehe.
Der innerdeutsche Koalitionsstreit zwischen CSU und CDU, der beim EU-Gipfel in Brüssel nicht gelöst werden dürfte, spielte nur am Rande eine Rolle. "Es kann nicht sein, dass eine bayerische Partei entscheidet, wie Europa funktioniert", konnte sich der etwa der luxemburgische Premier Xavier Bettel Kritik an der CSU nicht verkneifen. Er sei aber "überzeugt, dass auch (Innenminister Horst) Seehofer das verstehen wird und man enger zusammenkommt und konkretere Lösungen in den nächsten Wochen findet".