Erstmals finden in der Türkei am Sonntag die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am selben Tag statt. Präsident Recep Tayyip Erdogan hofft dabei auf ein weiteres Mandat im Präsidentenpalast in Ankara und eine neue Mehrheit für seine islamisch-konservative AKP in der Nationalversammlung.
Der langjährige Staats- und Regierungschef geht als Favorit in die Wahl, doch die Opposition ist stark, so dass der Ausgang offen erscheint. Fünf mögliche Szenarien für die Wahlen:
Erdogan gewinnt klar: Wenn Erdogan die Präsidentschaftswahl in der ersten Runde gewinnt und auch eine Mehrheit im Parlament erhält, ist sein Kalkül voll aufgegangen, mit den vorgezogenen Wahlen die Opposition zu überrumpeln. In diesem Fall profitiert er von den erweiterten Befugnissen unter dem Präsidialsystem, das bei einem umstrittenen Volksentscheid im April 2017 mit knapper Mehrheit gebilligt worden war und nach der Wahl voll in Kraft tritt. Da in diesem Fall Erdogans Macht auf lange Sicht gesichert wäre, könnte er die Zügel etwas lockerlassen, sich aber auch in seinem harten Kurs bestärkt sehen.
Erdogan muss in eine Stichwahl: Viele Türken sind in Sorge wegen Erdogans autoritärem Kurs sowie der hohen Inflation und dem Verfall der Währung. Es ist daher auch möglich, dass Erdogan in der ersten Runde die absolute Mehrheit verfehlt. In diesem Fall müsste er am 8. Juli in die Stichwahl - vermutlich gegen Muharrem Ince, den Kandidaten der säkularen CHP, der sich im Wahlkampf gut geschlagen hat. Wenn es Ince dann gelingt, die gesamte Opposition hinter sich zu versammeln, würde es eng werden für Erdogan. Allerdings ist offen, ob die Ablehnung von Erdogan allein als einigendes Band reicht.
Die AKP verliert das Parlament: Das Referendum über das Präsidialsystem hat gezeigt, dass fast die Hälfte der Türken eine weitere Stärkung der Macht Erdogans ablehnt. Es wäre daher möglich, dass die Türken Erdogan im Amt bestätigen, aber seiner AKP eine Mehrheit im Parlament verweigern. Insbesondere wenn die prokurdische HDP über die Zehn-Prozent-Hürde gelangt, dürfte dies die AKP die absolute Mehrheit kosten. Für Erdogan wäre dies ein harter Schlag, da er dann etwa beim Budget mit der Opposition kooperieren müsste. Ob er dies hinnehmen würde oder neu wählen ließe, ist unklar.
Die Opposition gewinnt: Sollte die Opposition die Parlamentswahl gewinnen, könnte dies bei einer Stichwahl eine Dynamik zu ihren Gunsten erzeugen. Wenn der Oppositionskandidat dann siegt, hätte dies einen tief greifenden Kurswechsel in der Türkei zur Folge. Die Opposition hat versprochen, das Präsidialsystem wieder zurückzunehmen, den Ausnahmezustand aufzuheben, inhaftierte Journalisten freizulassen und das Verhältnis zum Westen zu kitten. Allerdings gibt es Sorgen, dass nicht alle AKP-Anhänger einen Machtwechsel akzeptieren und sich mit der Oppositionsrolle abfinden würden.
Geteilte Macht: Das unwahrscheinlichste, aber auch schwierigste Szenario wäre, wenn die Opposition die Präsidentschaftswahl gewinnt, aber die AKP die Mehrheit im Parlament behält. Dann müsste der neue Präsident mit einer ihm feindlich gesinnten Partei kooperieren. Allerdings dürfte das Regieren für den Präsidenten auch dann nicht einfach werden, wenn die Opposition die Mehrheit bekommt. Denn die größten Oppositionsparteien verbindet vor allem die Ablehnung von Erdogan - ob sich daraus nach einem Machtwechsel eine gemeinsame politische Agenda ergeben würde, ist ungewiss.