logo



[email protected]

Nicola Werdenigg: "Der wahre Skandal wird sichtbar"

21-01-2018, 07:00

Wenige, die mit Toni Sailer gerne und oft anstießen, haben das auf die Gesundheit getan. Alkohol war eine gängige Droge im Skizirkus der Siebziger; der ÖSV war erfolgreich im Sport und auch führende Après-Ski-Institution. Das Austria Skiteam hatte damals ein handfestes Alkoholproblem. Es fehlte an Disziplin und Empathie.

Im Winter "nach Zakopane" hat Toni bei einer Rennserie in Übersee oft das Gespräch mit mir gesucht – auf Langstreckenflügen und am Skilift. Ich war fünfzehn. In der Schule hatte ich mich für Geisteswissenschaften eingeschrieben. Über Philosophen, Literaten und über Tonis spirituelles Weltbild haben wir geredet. Mir zeigte sich auch der melancholische Mensch. Aus heutiger Sicht kann ich mehr verstehen.

Wir reisten damals auch in den "Ostblock". Dort hörte ich von günstigen Quellen für Kaviar, Krimsekt und "Nutten". In den Hotels der Nomenklatura herrschte Ausnahmezustand, auch für die Grundwerte des Marxismus. In diesem Ambiente war vieles möglich. Sogar das Unvorstellbare über Toni Sailer, das im März 1975 in der Illustrierten Stern erstmals in den Fokus der breiten Öffentlichkeit geriet. Der junge Journalist Bernd Dörler hatte akribisch recherchiert und mit viel Mut über weitreichende Zusammenhänge berichtet.

Tabu-Thema

Schon damals stand weniger die mögliche Straftat von Sailer im Mittelpunkt. Es war das diplomatische Zusammenspiel, das politische Kalkül zweier Regierungen. Das hätte man ernst nehmen müssen und nicht zensieren dürfen. Als Mitglied des Skiteams wusste ich nicht, was ich glauben soll. Es kursierten viele Geschichten und Gerüchte. Die Version des Skiverbandes wurde zur Norm, der Journalist zum "Schwein" erklärt. Somit war das Thema tabu.

Eine Straftat im Zusammenhang mit sexualisierter Aggression wurde Sailer bei seiner Verhaftung zur Last gelegt. Das mutmaßliche Opfer, aber auch der mutmaßliche Täter hätten vor mehr als vierzig Jahren das Recht auf eine ordentliche Aufklärung durch die Justiz gehabt. Dieses Recht wurde beiden durch die staatliche Vertuschungsmaschinerie aus Politik und Skiverband entzogen.

Entweder wäre Toni Sailer von den Anschuldigungen freigesprochen worden. Oder er hätte einen Schuldspruch erhalten; die Möglichkeit, eine Tat zu verantworten, im ersten Schritt Schuld zu bekennen und danach an Ursachen heranzugehen. Für den Verstorbenen ist das nicht mehr möglich. Das ist für hinterbliebene Familienmitglieder tragisch. In Österreich und in Polen!

Die neuerliche Veröffentlichung halte ich für wichtig und richtig. Der wahre Skandal wird sichtbar. Männerbünde, bestehend aus Sportfunktionären und Politikern, verhinderten die Aufklärung einer schweren Anschuldigung. Sie setzten sich über Gesetze und Rechte jeder Art hinweg. Namhafte aktive Politiker haben aus der Vergangenheit scheinbar gar nichts gelernt. Sie kritisieren die Veröffentlichung der Recherchen. Anstatt die Vertuschungsvorgänge, die sich damals zugetragen haben, zu untersuchen und offenzulegen, setzen sie die alte Maschinerie erneut in Gang.

Auch der ÖSV muss endlich Verantwortung übernehmen. Dass die Angelegenheit Sailers Privatsache wäre und nichts mit dem ÖSV von heute zu tun hätte, ist erschreckend. Sie zeigt einmal mehr, dass sich die Verbandsführung nur den Ruhm auf die Fahnen heftet. Zu Verfehlungen von Aushängeschildern ist die Antwort jedes Mal lapidar: nicht zuständig. Es ist zu erwarten, dass noch viele Fälle im Umfeld des Sports sichtbar werden.

#MeToo hat ein Problem öffentlich gemacht. #WeTogether will dazu beitragen, es zu lösen. Die junge Bewegung ist aktiv. Unser Institut zur Prävention von Machtmissbrauch im Sport hat die Arbeit bereits aufgenommen.

Nicola Werdenigg, 59, Mutter von drei Kindern, seit 2016 verwitwet, Olympia-Vierte 1976, stammt aus der Skifamilie Spieß. 2017 sprach sie offen über den Missbrauch im Skisport, über ihre Rolle als Opfer sexueller Gewalt und löste eine große Diskussion aus.

Nachrichtenquelle


© 2017-2024 wienpress.at [email protected]