Zumindest den Humor hat Gregor Schlierenzauer noch nicht verloren. Reicht ja schon, dass ihm sonst nahezu alles abhanden gekommen zu sein scheint, was ihn einmal als Skispringer ausgezeichnet hat. Die Leichtigkeit und Sicherheit, das Fluggefühl und die Form, vor allem aber: der Erfolg. 37 (Innsbruck), 33 (Bischofshofen), 38 (Kulm), dazu Rang 36 im Gesamtweltcup – die Daten, die der Flugschreiber aktuell für Schlierenzauer auswirft, würden nie vermuten lassen, dass der Tiroler der erfolgreichste Skispringer der Weltcuphistorie ist und diesen Sport einmal ähnlich dominiert hat wie Marcel Hirscher derzeit den Skiweltcup.
"Ich bin mir eher wie ein Skifahrer vorgekommen", sagte Gregor Schlierenzauer also in einem Anflug von Selbstironie, nachdem er am Wochenende beim Skifliegen am Kulm wieder einmal viel zu früh und auf dem Boden der Realität gelandet war. Der Überflieger und Weitenjäger vom Dienst ist zu einem Ottonormalskispringer verkommen, ja zuletzt präsentierte sich Schlierenzauer dermaßen schwach, dass er sich nicht einmal mehr in einer alles andere als starken ÖSV-Mannschaft behaupten konnte. Die Skiflug-Weltmeisterschaft am Wochenende in Oberstdorf wird ohne den besten Skiflieger der Geschichte (14 Siege) stattfinden. Stattdessen muss Schlierenzauer zusammen mit Manuel Fettner, einem weiteren Routinier, der in einem hartnäckigen Formtief steckt, zur Skisprungnachhilfe.
"So hat es überhaupt keinen Sinn", erklärt Ernst Vettori. Der Nordische Direktor beim Skiverband wundert sich zusehends über die misslungenen Auftritte des Stubaiers, der dereinst mit seinen weiten Sprüngen und Seriensiegen vor allem die Gegner vor Rätsel gestellt hat. "Zu erklären ist es eigentlich nicht, wieso er solche Probleme hat."
Für Chefcoach Heinz Kuttin, der am Dienstag mit seinem Sorgenkind in Planica eine Sonderschicht einlegt, ist die Flaute in erster Linie Kopfsache. "Am Schwierigsten ist die Selbstreflexion", sagt der Kärntner. Übersetzt: Gregor Schlierenzauer tut sich extrem schwer damit, dass er auf ein Normalmaß gestutzt worden ist und ihm das Skispringen nicht mehr so leicht von der Hand geht wie in seinen Anfangsjahren. Damals waren ihm die Titel und Trophäen regelrecht zugeflogen und auf dem Weg zum Allergrößten hatte der junge Schlierenzauer auf der Karriereleiter gleich mehrere Stufen auf einmal übersprungen.
Dem 28-jährigen Gregor Schlierenzauer bereitet es nun sichtlich Probleme, sich in Geduld zu üben und den Weg der kleinen Schritte zu bestreiten. "Wir haben dieses Thema massivst mit ihm besprochen", erzählt Trainer Kuttin, "wirklich massivst. Der erste Sprung auf einer Schanze funktioniert meistens. Dann gibt er Gas, dann passieren Fehler und es haut ihn aus der Spur."
Auch deshalb hat Kuttin nun die Reißleine und Schlierenzauer aus dem Flugverkehr gezogen. Die nächste bittere Erfahrung für Schlierenzauer, der seinerzeit bei der Skiflug-WM in Oberstdorf seinen ersten großen Titel gewonnen hatte (2008).
Ohne Wettkampfdruck soll der 28-Jährige nun vor allem seinen unbändigen Drang nach Perfektion zügeln. Denn: "In seiner Situation reichen 90-prozentige Sprünge absolut", weiß der 47-Jährige. "Mit Perfektionismus wird das nicht funktionieren." Auch wenn das für einen Sportler, der wie Gregor Schlierenzauer immer nur nach dem Höchsten und Besten gestrebt hat, vermutlich schwer zu akzeptieren ist. "Wenn du in Form und im Flow bist, dann zeichnen dich solche Eigenschaften aus. Aber wenn du dich auf der Suche nach der Form befindest, dann blockiert dich das eher. Die Details halten dich auf", sagt Kuttin.
Und dennoch, Flaute hin, Formtief her, im Adlerzirkus findet sich niemand, der Gregor Schlierenzauer bereits abschreiben würde. "Wenn der Noriaki Kasai mit 45 noch vorne mitspringt, dann wird es der Gregor Schlierenzauer mit 28 wohl allemal können", meint der deutsche Chefcoach Werner Schuster, der den Tiroler in der Jugend trainiert hatte.
Und Gregor Schlierenzauer selbst? Dem geht es aktuell nicht um das Ticket für die Olympischen Spiele in Korea, geschweige eine Olympiamedaille. "Ich will einfach wieder lässig Skispringen."