Wie tief die österreichischen Höhenflieger inzwischen gesunken sind, wurde deutlich, als Richard Freitag verärgert und unter Schmerzen aus dem Auslauf der Bergiselschanze humpelte. Obwohl der deutsche Weltcupführende nach der Landung einen Bauchfleck hingelegt hatte, obwohl er nur Haltungsnoten zwischen 10,0 und 11,5 erhalten hatte, obwohl ihm also ein kapitaler Sturz passiert war, war Richard Freitag nach dem ersten Durchgang noch immer besser als zehn der elf Österreicher.
Die Trendwende zum Guten, die im Lager der ÖSV-Springer nach der Qualifikation geortet worden war, die Zuversicht, die Trainer und Athleten demonstrativ versprüht hatten – es war nichts als heiße Luft. Fast alle Österreicher passten am Bergisel ihre Leistungen dem grauenhaften Wetter an und plumpsten nach der Ernüchterung vom Neujahrsspringen vom Regen in die Traufe.
Wäre Michael Hayböck nicht gewesen, der als Zehnter die rot-weiß-rote Fahnen hoch hielt, den Österreichern wäre beim Heimspringen das nächste historische Debakel sicher gewesen. Der 26-Jährige war neben dem Debütanten Clemens Leitner (29.) der einzige ÖSV-Springer, dem in Innsbruck ein Lächeln über die Lippen kam. "Weil ich merke, dass es bergauf geht. Ich steigere mich stetig", sagte Hayböck.
Bei seinen Teamkollegen regierten hingegen erneut Enttäuschung und Ernüchterung. Für Betreuer wie Athleten scheint Skispringen aktuell in erster Linie ein Denksport zu sein, es herrscht allgemeines Rätselraten. Wieso wirkt der Überflieger der letzten Saison (Stefan Kraft) auf einmal wie ein Ottonormalskispringer? Warum ist Gregor Schlierenzauer (37.) auf der Hausschanze im Anlauf eineinhalb Sekunden langsamer als die Besten? Was ist bloß in Routinier und Teamweltmeister Manuel Fettner gefahren, der beim Heimspringen nur die Wertung für den schlechtesten Österreicher gewann (47.)?
"Es ist ganz komisch", sagte Stefan Kraft (24.) Der Weltcupgesamtsieger steht sinnbildlich für die Krise im ÖSV-Team. Der 24-Jährige, der in Oberstdorf nach dem ersten Durchgang noch geführt hatte, wirkt fast so, als hätte er über den Jahreswechsel das Skispringen verlernt. Kraft macht plötzlich technische Fehler, er ist verunsichert, er versteht die Welt nicht mehr. "Keine Ahnung, warum es mich in der Luft so zerfleddert", sagte der Salzburger.
Chefcoach Heinz Kuttin findet die Entwicklung seines Vorzeige-Adlers keineswegs rätselhaft. Der Kärntner weiß sehr wohl, warum sich Kraft mittlerweile so schwer tut. "Er hat einfach nicht die Geduld, mit ihm gehen die Pferde durch", erklärt Kuttin. "Es muss weitergehen."
Während für Kraft und die übrigen Österreicher das Skispringen derzeit die komplizierteste Sache der Welt zu sein scheint, befindet sich Kamil Stoch bei dieser Tournee in jenem Zustand, den jeder Springer anstrebt: Der Pole hat einen regelrechten Flow, und der treibt ihn zu einem historischen Rekord. Stoch ist drauf und dran, als zweiter Sportler nach Sven Hannawald (2001/’02) alle vier Bewerbe bei einer Tournee zu gewinnen.
Der Gesamtsieg dürfte dem 30-jährigen ohnehin nicht mehr zu nehmen sein. Nach seinem Triumph am Bergisel reist Titelverteidiger Stoch mit 64,5 Punkten Vorsprung (umgerechnet 36 Meter) zum Tourneefinale nach Bischofshofen, wo heute die Qualifikation gesprungen wird (17 Uhr, live ORFeins). In Innsbruck ist ihm mit Richard Freitag auch der härteste Widersacher abhanden gekommen, wegen sturzbedingter Hüftbeschwerden konnte der Deutsche im zweiten Durchgang nicht mehr antreten.