Wenn es im Skirennlauf so etwas wie ein Orakel gibt, dann sind es zwei Bewerbe in Italien und Kanada: Wer im Alter zwischen elf und 14 Jahren beim Trofeo Topolino oder beim Whistler Cup in die Auslage fährt, hat beste Chancen, auch im Weltcup für Schlagzeilen zu sorgen. Ob Lindsey Vonn oder Marlies Raich, Anna Veith oder Anja Pärson – viele große Karrieren begannen so.
Als im April 2008 eine 13-jährige Amerikanerin in Kanada Slalom, Riesenslalom und Kombination gewann und zwei Jahre später in Italien auch Slalom und Riesenslalom für sich entschied, da war schon abzusehen, dass da jemand nach oben strebt, der zu Großem imstande ist. Und am 29. Dezember 2011 folgte in Lienz die Offenbarung: Mit 16 Jahren und 291 Tagen wurde Mikaela Shiffrin Dritte im Slalom von Lienz, hinter Marlies Raich (damals noch Schild) und der Slowenin Tina Maze.
Wenn heute in der Hauptstadt Osttirols wieder ein Stangenwald zu durchqueren ist (10.30/13.30 Uhr, live ORF eins), dann ist Mikaela Shiffrin die große Gejagte. Mit ihren 22 Jahren ist sie selbst in den nicht gerade skiaffinen USA ein Star, vor allem seit ihrem Olympiasieg im Slalom von Sotschi 2014. Längst hat sich NBC die Senderechte für den Weltcup gesichert, und seit Shiffrin 2015 bei der WM in Vail und Beaver Creek die zweite Slalom-Goldene in Folge holte, da hat sich die Zahl der Fans vervielfacht.
Schlag’ nach bei den Ostküsten-Rennen, die fünfstellige Zuschauerzahlen zu jedem Bewerb in Killington brachten, und in Vermont lebt nicht nur Shiffrins Großmutter, dort ist auch die Burke Mountain Academy, die dem Slalom-Ass das technische Rüstzeug beschert hat. 2009 bestritt Shiffrin in Hintertux ihr erstes internationales Rennen, "ein Spaßrennen, aber das hat mir gezeigt, worum es im wirklichen Sport geht. Du kannst auch in deinem Tal in den USA bleiben, aber so ein Rennen ist großartig für die persönliche Entwicklung", sagt sie rückblickend.
Bei allen Erfolgen hat sich eines nicht verändert: die Bescheidenheit – und die Begeisterung über die Leistungen der Kolleginnen. Dass ihr die Slowakin Petra Vlhova im Finale der letzten und zu Beginn der laufenden Saison im Slalom um die Ohren gefahren ist, das ringt der 22-Jährigen vor allem Respekt ab. "Sie fährt die ganze Saison schon so stark. Es ist cool, diesen Kampf zu erleben", sagte Mikaela Shiffrin nach ihren zwei Siegen in Courchevel.
Die sie im Übrigen auch ihrem Gefühl zu verdanken hatte – wie schon im Jahr zuvor hatte sich die Amerikanerin nach der Rückkehr nach Europa eine Auszeit genommen. Dass sie dennoch kaum Vorsprung im Gesamtweltcup eingebüßt hatte, lag an der Konkurrenz, die sich durch Stürze und mäßige Platzierungen einbremste.
Und so kommt es, dass sie nicht nur im Slalom-Weltcup mit 20 Punkten Vorsprung auf Petra Vlhova vorne liegt, sondern auch in Riesenslalom (sieben Punkte vor Viktoria Rebensburg/GER) und Abfahrt (zehn Punkte vor Cornelia Hütter). Macht in der Gesamtwertung 721 Zähler – 291 Punkte vor Rebensburg.
Zum Vergleich: Tina Maze kam vor fünf Jahren in ihrer Rekordsaison (2414 Punkte) mit 859 Punkten aus der Weihnachtspause, die Slowenin lag damals 351 Punkte vor der Deutschen Maria Höfl-Riesch. Am Ende waren es 1313 Zähler Differenz. Was man angesichts der 35 Weltcupsiege von Miss Shiffrin kaum für möglich halten mag: Im Super-G hat sie noch Aufholbedarf. Der vierte Rang Ende Jänner in Cortina war bislang das Höchste der Gefühle.
Doch auch diese Lücke wird die 22-Jährige füllen.