
Wenn man eines über die deutsche Kanzlerin sicher weiß, dann ist es das: Sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, vergisst also nie etwas.
Das war bei vielen ihrer Weggefährten so, die in Ungnade gefallen waren und sich plötzlich im politischen Ausgedinge wiederfanden; und das wird bei nicht viel anders sein: Dass die beiden während der Flüchtlingskrise über ihre Diplomaten heftige Gefechte austrugen, dass er sie auch öffentlich lautstark zu kritisierte, sie in den deutschen Medien vorführte – so zumindest wurde das im Kanzleramt empfunden -, hat sie ihm nicht vergessen, sagt ein CDU-Kenner. Ebenso wenig goutiert sie die Regierungsbeteiligung der FPÖ – eine extrem rechte Partei in der Regierung gilt als No-Go in Deutschland.
Ob sie ihn das heute, bei seinem ersten Besuch in Berlin auch spüren lassen wird?
Foto: KURIER/ IM KURIER-Reporterin Ida Metzger und Kurz bei der Landung in Berlin Ziemlich sicher nicht. Denn die Lage hat sich grundlegend geändert: Kurz hat einen Wahlerfolg im Rücken, wie Merkel ihn sich auch gewünscht hätte, und er hat im Gegensatz zu ihr eine zwar im Ausland kritisch beäugte, aber immerhin stabile Koalition zustande gebracht. Merkel hingegen steht lange nicht mehr so trittfest wie sie das noch vor einiger Zeit getan hat: Ihre CDU weiß erstmals seit ihrem Amtsantritt selbst nicht mehr, ob sie mit dieser Kanzlerin weiterregieren will.
Kurz begegnet Merkel damit heute nicht nur erstmals auf Augenhöhe, sein Besuch hat für sie doppelte Relevanz: Er gilt als politisches Gegenmodell zum System Merkel – zumindest unter den Konservativen, die sich schon länger nach einem rechteren Kurs der Union sehen. Dass Merkel-Intimfeind Jens Spahn, CDU-Finanzstaatsekretär mit großen Ambitionen, bei Kurz‘ Wahlsieg anwesend war und das lautstark in den sozialen Netzwerken ventiliert hat, war eine Spitze gegen die Chefin; und dass die CSU den jungen Kanzler hofiert, als wäre er ein geborener Bayer, ist ohnehin pure Absicht. Auch die: Allein der Spiegel sorgt für kritische Töne, indem er „Kurz sucht Anschluss in Berlin“ schreibt; vom Springer-Verlag wird er hingegen mit einem prominent besetzen Abendessen gefeiert, Sandra Maischberger widmet ihm eine ganze Stunde TV-Sendezeit.
Dass Merkel dennoch gelassen bleibt, im Vorfeld sogar kommunizieren ließ, wie sehr sie sich auf den Besuch des halb so alten Kanzler-Novizen freue, hat aber nicht nur mit ihren internen Kritikern zu tun. Der eigentliche Grund ist ihr altbewährter Pragmatismus: Merkel ist der Methusalem der EU-Regierungschefs; sie gilt als schmerzfrei, was das Kommen und Gehen ihrer Partner in den anderen Ländern angeht. Ihr geht es nur darum, ihre eigenen Projekte durchzusetzen – und was die Kräfteverhältnisse in der EU angeht, so Berlin noch immer ein Schwergewicht.
Insofern ist ihre Freundlichkeit als Bemühen zu verstehen, Kurz in EU-Fragen auf ihre Seite zu ziehen: Dass er nach Amtsantritt nicht – wie bisher üblich – nach Berlin eilte, sondern zunächst nach Brüssel und dann nach Paris, war vielleicht als Spitze zu verstehen, wurde in Deutschland aber nicht als Affront wahrgenommen – man sah es als Ansage pro Europa, und das kann Merkel angesichts der FPÖ-Regierungsbeteiligung nur gefallen.
Dazu kommt, dass Österreich und Deutschland auf EU-Ebene tatsächlich viele gemeinsame Interessen haben – und dass Kurz durchaus von einer starken Merkel an seiner Seite profitieren kann: Auch wenn nach außen hin immer von einer Nähe Österreichs zu den Visegrad-Staaten die Rede ist, so sind sich die beiden Nettozahler in ihren Wünschen deutlich ähnlicher als Wien und die Oststaaten, die ja Nettoempfänger sind. Da Kurz bereits festgehalten hat, dass man nach dem Brexit nicht willens ist, mehr nach Brüssel zu zahlen als bisher, wird er gewichtige Unterstützer brauchen.
Eine solche könnte Merkel sein - Elefantengedächtnis hin oder her: Auch wenn aus ihnen keine besten Freunde mehr werden, in puncto Pragmatismus sind sich beide nämlich ähnlicher als man glaubt – und als ihnen selbst vielleicht bewusst ist.
