"In dem Moment, in dem das Vereinigte Königreich beschließt, dass es in der EU bleiben will, lassen wir hier den Bleistift fallen. Dann hören wir auf zu verhandeln und alles bleibt beim Alten", sagt eine mit den Brexit-Verhandlungen vertraute europäische Diplomatin. Theoretisch wäre dies bis zum 28. März kommenden Jahres möglich. Tags darauf wäre es zu spät – denn dann wird Großbritannien laut Plan nach fast fünf Jahrzehnten Mitgliedschaft in der EU ein Drittstaat sein. Wollte London der Union wieder beitreten, müsste es danach wie jeder andere Staat den Beitritt neu verhandeln.
In Brüssel ist die Hoffnung nie ganz erloschen, dass es in Großbritannien doch noch zu einem Sinneswandel kommen könnte. "Unsere Herzen sind immer noch offen für Sie", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk gestern im EU-Parlament in Straßburg speziell an die Adresse der britischen EU-Abgeordneten. Und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker pflichtete bei : "Ich hoffe, die Botschaft Tusks kommt in der britischen Regierung an. Ich hätte nicht gerne, wenn dies in London überhört wird."
Gehört wurde dies in London wohl, aber sofort zurückgewiesen. Ein Sprecher von Premierministerin May sagte knapp: Eine Kursänderung sei nicht vorgesehen.
Anlass zu den gestiegenen Hoffnungen der EU-Granden bieten offenbar Umfragen, wonach die britischen Brexit-Gegner derzeit eine knappe Mehrheit stellen. Dies hatte wiederum Brexit-Wortführer Nigel Farrage derart erbost, dass er ein zweites Referendum einforderte. Eine zweite Abstimmung freilich, die aus der Sicht des streitbaren Ex-Chefs der UKIP-Partei nur ein Ergebnis bringen könne: Eine noch klarere Ablehnung der EU als beim ersten Referendum im Juni 2016.
Auch bei Großbritanniens Außenminister Boris Johnson ist kein Gesinnungswandel zu erkennen. Der überzeugte Brexiteer ließ stattdessen erneut mit abenteuerlichen Zahlen aufhorchen: Nicht wie einst angenommen 350 Millionen (440 Mio. Euro), sondern 438 Millionen Pfund (492 Mio. Euro) werde das Land wöchentlich nach seinem Abgang aus der EU einsparen, behauptete er. Schon zuvor hatte sich Johnson für seine Zahlenspiele vom Leiter der britischen Statistikbehörde "Missbrauch offizieller Statistiken" vorwerfen lassen müssen. Doch Johnson bleibt dabei: "Wir haben die Summe, über die wir die Kontrolle zurückerlangen, stark unterschätzt."
Falsch eingeschätzt hat London aber auch die Härte und Geschlossenheit der Verhandlungsphalanx der 27 anderen EU-Staaten. Drei Schlüssel-Bedingungen der EU für das Scheidungsverfahren hatte London mehr oder weniger zu "schlucken" – die Austrittsrechnung, Erhalt der Rechte für EU-Bürger und keine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland.
Auch bei den Gesprächen über die bis Ende 2020 angesetzte Übergangszeit, in der Großbritannien kein EU-Staat mehr ist, aber noch kein Handelabkommen mit Brüssel hat, überraschte EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier mit harten Vorgaben: Die EU-Personenfreizügigkeit muss im Vereinigten Königreich bis Ende 2020 aufrecht bleiben. Und überhaupt hat London alle Pflichten der EU weiter wahrzunehmen, ohne als Ex-Mitglied mitreden zu dürfen.