Es war ein Satz, den Christian Lindner mit zitternden Händen vom Blatt las: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren." Nach mehr als vier Wochen Gezerre um die immer selben Themen Klimaschutz, Flüchtlinge und Finanzen beendete der FDP-Chef am Sonntag kurz vor Mitternacht die Sondierungen. Und damit auch die Ära Merkel? Die Kanzlerin steht nach dem Scheitern der Gespräche vor ihrer schwersten Niederlage.
Noch am Montag plädierte die Kanzlerin für Neuwahlen. Dies wäre "der bessere Weg" als eine "Minderheitsregierung", sagte sie am Montagabend in der ARD-Sendung "Brennpunkt". Sie sei bereit, "weiter Verantwortung zu übernehmen". Und verwies darauf, dass sie im Wahlkampf zugesichert habe, das Amt der Bundeskanzlerin für volle vier Jahre zu übernehmen. Das sei gerade einmal zwei Monate her, und "es wäre sehr komisch", wenn sie den Wählern nun allein aufgrund der FDP-Entscheidung sage: "Das gilt nicht mehr".
Wie könnte es zu nun Neuwahlen kommen?
Zunächst muss der Bundestag aufgelöst werden, das geht grundsätzlich über die Vertrauensfrage. Da Angela Merkel nur geschäftsführend im Amt ist, besteht die Möglichkeit nicht. Das Parlament aufzulösen geht nur über eine andere Variante: Es muss eine neue Kanzlerwahl geben. Entscheidend dafür ist Artikel 63 im Grundgesetz – eine Reaktion auf die Ereignisse der 1930er-Jahre. Bundespräsident Steinmeier muss dazu jemanden vorschlagen. Würde Merkel als Kandidatin die Mehrheit verfehlen, würde nach 14 Tagen noch einmal gewählt. Sollte sie es auch im zweiten Durchgang nicht schaffen, reicht es, wenn sie beim dritten Mal eine relative Mehrheit bekommt. Danach bleiben dem Bundespräsidenten zwei Möglichkeiten: Er kann Merkel zur Kanzlerin ernennen oder den Bundestag auflösen. Entscheidet er sich für Letzteres, muss binnen 60 Tagen gewählt werden.
Was haben die Parteien bei einem erneuten Urnengang zu befürchten?
Abgesehen davon, dass die Ergebnisse höchstens bei der AfD noch nach oben schnellen könnten, würden vor allem parteiinterne Querelen hochkochen – etwa die Frage neuer Spitzenkandidaten. Nach dem Wahldebakel im September hat Merkel bei einer Abstimmung deutlich weniger Rückhalt von jenen, die weiter einen harten Kurs herbeisehnen. Allerdings haben die Konservativen auch keinen konsensfähigen Alternativ-Kandidaten parat – daher will und muss Merkel wieder antreten.
Ein erneuter Urnengang kommt der SPD ungelegen, auch wenn sie derzeit darauf pocht. Die Sozialdemokraten haben sich von ihrer Schlappe noch nicht erholt, sind in einem Findungsprozess. Im schlimmsten Fall könnten sie bei Neuwahlen sogar unter die 20-Prozent-Marke rutschen.
Warum kommt es nicht zu einer großen Koalition?
Rein rechnerisch wäre es möglich gewesen. Allerdings erteilte der Parteivorstand der SPD dem gestern eine klare Absage. Wie schon nach der Bundestagswahl betonten die Sozialdemokraten, dass sie nicht für eine erneute große Koalition zur Verfügung stehen. Parteichef Martin Schulz hatte noch Sonntagabend bekräftigt, dass die SPD nicht den Retter spiele, wenn Jamaika scheitert. Lieber würde er Neuwahlen in Kauf nehmen.
Als weitere Alternative galt eine Minderheitsregierung. Wie hätte diese ausgesehen?
Lassen sich Union und FDP auf eine Minderheitsregierung ein, würden ihnen 29 von 709 Sitzen im Bundestag auf eine Mehrheit fehlen. Das Gleiche gilt für das Bündnis Schwarz-Grün; es bräuchte 42 Sitze zur Mehrheit. Der Haken an einer Minderheitsregierung: Sie gilt als instabil, weil sie eben auf andere angewiesen ist. Zudem fehlt die Erfahrung damit. Angesichts dessen entschied sich die Kanzlerin wohl dagegen.
Wie standen Grüne, FDP und CSU zu dieser Beteiligung?
Die FDP, die wegen des Platzen-Lassens der Sondierungsgespräche scharfer Kritik ausgesetzt ist, zeigte sich am Montag bereit, eine etwaige Minderheitsregierung zu unterstützen. "Wenn es gute Initiativen gibt, dann stehen wir zur Verfügung", sagte Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann. Von den Grünen kamen keine Signale, Parteichef Cem Özdemir wollte sich nicht dazu äußern. CSU-Chef Seehofer zeigte sich skeptisch und erteilte der Konstellation aufgrund der Vorfälle mit der FDP eine Absage. Positiv äußerte er sich hingegen zu Merkels Ankündigung, die Union im Falle von Neuwahlen erneut in den Wahlkampf zu führen. Sie habe in den vergangenen Wochen die Positionen der CSU zuverlässig unterstützt, auch in der Zuwanderungsfrage.
Fünf Minuten vor Mitternacht verkündete FDP-Chef Christian Lindner am Sonntag in Berlin das Aus der Sondierungsgespräche. Der 38-Jährige sprach von "wenigen gemeinsamen Vorstellungen" und "fehlendem Vertrauen" zwischen den vier Parteien. Mit den bis dahin ausgehandelten Maßnahmen würden die Liberalen ihre Grundsätze aufgeben und ihren Wählern die versprochenen "Trendwenden" schuldig bleiben. "Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren", beendete er seine Erklärung.
Nur wenige Minuten später fand sich bereits auf dem Twitter-Account der Liberalen eine Grafik, magenta auf gelb, mit dem neuen Slogan: "Lieber nicht regieren als falsch." Nicht nur das machte die anderen Gesprächspartner stutzig, sie unterstellten der FDP ein klares Kalkül. Oder, wie es Julia Klöckner, CDU-Vizechefin, formulierte: Dass die FDP "kurz vor der Einigung" abgesprungen sei, habe mehr als nur eine Person verwundert.
Doch Lindner hatte bereits vor Beginn der Gespräche im KURIER-Interview betont: "Es muss Trendwenden geben, wenn die FDP der Regierung angehören soll." Und von "kurz vor der Einigung" könne wirklich keine Rede sein, sagte Wolfgang Kubicki am Montag. Der Ball liege nun bei Union und SPD.
In der bald 70-jährigen Geschichte der FDP war sie stets zur Stelle, wenn sich eine Chance bot, Teil der Bundesregierung zu sein: "Verlässlich flexibel", wie es der Spiegel kommentierte, agierten die Freien Demokraten für SPD wie Union als Mehrheitsbeschaffer. 2013 endete das für die FDP traumatisch: Nach vier Jahren schwarz-gelber Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel flog die FDP aus dem Bundestag. Das Grundübel, ergab die Analyse danach, seien schwere Fehler bereits bei den Koalitionsverhandlungen 2009 gewesen.
Diese Erfahrung sitzt den Liberalen noch in den Knochen. Insofern klingt Lindner, der die FDP mit hartem Einsatz bei den Wahlen im September zurück in den Bundestag holte, glaubhaft, wenn er von Prinzipien spricht, die er nicht über Bord werfen kann und will. "Ich habe die FDP nicht zurück ins Parlament geführt, um in einer Regierung ohne eigene Akzente zu arbeiten", hatte er erst kürzlich gesagt.
Er werfe es seinen drei Gesprächspartnern nicht vor, auch an ihren Prinzipien festzuhalten. Wenn vier Partner nicht in der Lage seien, schon beim Absehbaren einen gemeinsamen Plan zu entwickeln, "ist das keine Voraussetzung dafür, dass auch auf das Unvorhergesehene angemessen reagiert werden kann", gab er zu bedenken.
In der Union wurde gemutmaßt, er hoffe, bei Neuwahlen damit punkten zu können. Doch das bezweifelt Meinungsforscher Manfred Güllner. Die Liberalen seien immer nur stark gewesen, wenn Wähler das Gefühl hätten, sie könnten als Korrektiv in einer Regierung wirken.
Entscheidungen von großer Tragweite, die die Europäische Union in den nächsten Wochen zu treffen hätte, stehen vorerst nicht an. Trotzdem ist man in Brüssel wenig darüber begeistert, dass das mächtigste Land Europas weiter ohne stabile Regierung da steht. Echte Impulse aus Deutschland bleiben aus, so manch drängendes Thema wird hinausgeschoben. Die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel wird in der EU zwar unverändert mitreden, ihr perfekt arbeitender Verwaltungs- und Diplomatenapparat wie gewohnt mitarbeiten, aber die Schubkraft des deutschen EU-Motors steht bis zur Bildung einer Regierung auf Null.
Beim Afrika-Gipfel der EU in der kommenden Woche wird Merkel wohl dabei sein, doch auf den Weg gebracht wird dort ohnehin nur, was schon längst beschlossene Sache ist.
Interessant auch die Wahl des Eurogruppenchefs am 4. Dezember: Deutschland hätte beantragen können, die Kür des Jeroem-Dijsselbloem-Nachfolgers zu verschieben. Doch Berlin tat es nicht. Und so kann angenommen werden, dass ein neuer Eurogruppenchef gewählt wird, mit dem Berlin leben wird müssen. Ganz gegen den Strich wird dieser Neue aber Berlin nicht gehen, so viel Durchsetzungskraft in den europäischen Gremien hat die deutsche Führung auch ohne neu aufgestellte Regierung.
Und da wäre noch der EU-Gipfel im Dezember, bei dem die Reform der Eurozone zur Debatte steht. Bringt Berlin nicht sein ganzes Gewicht aufs Tapet, wird der Vorteil beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron liegen. Und was das Brexit-Verfahren betrifft: Deutschland hat sich in die Verhandlungslinie der anderen 26 EU-Staaten eingereiht, die künftig ohne London leben werden. Entscheidungen fallen in dieser Frage gemeinsam, egal, ob mit oder ohne Jamaika-Koalition in Berlin.