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33.293 toten Flüchtlingen einen Namen geben

13-11-2017, 17:27

Es war das Foto eines toten syrischen Buben an einem türkischen Strand, das im Spätsommer 2015 die Welt bewegte. Es war auch sein Name, Aylan Kurdi, über den berichtet wurde. Selten rücken Einzelschicksale wie dieses in den Blickpunkt, man hat sich an die täglichen Kurzmeldungen über tote Flüchtlinge im Mittelmeer oder an anderen Orten gewöhnt.

Der Tagesspiegel hat gemeinsam mit dem Berliner Maxim-Gorki-Theater nun ein bemerkenswertes Zeichen gesetzt. Auf 48 Seiten die Berliner Tageszeitung "The List", ein Projekt der türkischen Künstlerin Banu Cennetoğlu. Ihre seit 2006 geführte Liste dokumentiert mittlerweile die Daten von 33.293 Asylsuchenden, Flüchtlingen und Migranten, die seit 1993 innerhalb oder an den Grenzen Europas gestorben sind. Jeder Mensch, jeder Tote bekommt eine Zeile: Für den Namen, soweit bekannt , für die Herkunft, das Todesdatum und die Todesursache. Die Daten werden vom europäischen Netzwerk United for Intercultural Action zusammengestellt – und müssen leider laufend aktualisiert werden.

Kein Schmuck, kein Kommentar

Zeile für Zeile entstehen beim Lesen der schmuck- und kommentarlosen Bilder im Kopf. Zum Beispiel zu der Tragödie vom 26. August 2015, als auf der A4 im Burgenland in einem Kühllaster 71 Leichen gefunden wurden. Auch ein länger zurückliegender Fall aus Österreich scheint auf: "01.05.1999; 1; Marcus Omofuma (25, m) Nigeria; während der Abschiebung aus Wien (AT) nach Sofia (BG) erstickt, der Mund war zugeklebt"

Foto: Kurier Nur ein Ausschnitt aus der umfassenden Liste Dem Chefredakteur des Tagesspiegel, Stephan-Andreas Casdorff, war es wichtig, die Liste gerade am 9. November zu veröffentlichen, ein oft als "Schicksalstag der Deutschen" bezeichnetes Datum – "im Schlechtesten wie im Besten", wie Casdorff in einem Kommentar schrieb. Er zitiert im Gespräch mit dem KURIER einen berührenden Dankesbrief des Internationalen Auschwitz-Komitees: "Die Liste wird hoffentlich viele Leute innehalten lassen mit dem Gefühl, wenigstens einen Moment in einer sehr kalten Welt zu stehen und sich nicht wegdrehen zu können."

Neben derart positiven Reaktionen habe es auch Ablehnung gegeben. Diese bezog sich vor allem auf die von der Künstlerin Cennetoğlu im Titel verwendete Formulierung "restriktive Politik der Festung Europas". Da man das Projekt als gesellschaftspolitisch-künstlerische Äußerung sehe, habe die Zeitung im Sinne der Kunstfreiheit bewusst nicht eingegriffen. Casdorff: "Hier geht nur: Man macht es oder man lässt es."Der Tagesspiegel hat es gemacht.

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