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Anti-Terrorkoordi­na­tor der EU: "Wir sollten vorbereitet sein"

10-11-2017, 06:00

Mehr als 5000 junge Männer aus Europa  sind in den Krieg gezogen, um für den „Islamischen Staat“ (IS) zu kämpfen. Nach der Niederlage des IS im Irak und in Syrien werden einige von ihnen „früher oder später“  zurückkehren,  führt der  Anti-Terrorkoordinator der EU, Gilles de Kerchove, im Gespräch mit dem KURIER aus.

KURIER: Müssen sich die EU-Staaten  auf die Rückkehr Hunderter oder mehrerer Tausend radikal-islamistischer Kämpfer einstellen?
Gilles de Kerchove: Etwa die Hälfte der über 5000 IS-Kämpfer aus Europa ist entweder bereits zurückgekommen oder wurde getötet. Von der anderen Hälfte wissen wir wenig: Wer sie sind und ob sie noch leben. Bisher haben wir noch keinen  massiven Strom an Heimkehrern registriert. Dafür gibt es mehrere Gründe: Viele sind bei den Kämpfen umgekommen. Zudem hat der IS   Überläufer, die fliehen wollten, getötet.  Weiters ist die Grenze  von Syrien zur Türkei jetzt viel schwieriger zu überwinden als bisher. Und die entschlossensten Anhänger des IS kämpfen weiter, in der Grenzregion zwischen Syrien und Irak. Wiederum Andere sind  zu  divsersen Kriegsschauplätzen wie etwa Somalia  abgezogen.

Wie kann man sich dennoch schützen vor potenziell steigender Terrorgefahr?
Auch wenn die Geheimdienste  so bald keine massive Rückkehr der ausländischen Kämpfer erwarten,  heißt das nicht, dass wir nicht vorbereitet sein sollten. Von Zeit zu Zeit werden einige zurückkommen. Dann wird es umso wichtiger sein, sie sofort an der Grenze auszumachen. Das versuchen wir schon seit zwei Jahren mit  Checks und mit systematisch, in den EU-Staaten gesammelten Daten. Wir haben jetzt innerhalb der EU sehr viel mehr Informationen als früher.
Aber wir müssen auch an einem Rehabilitierungsprogramm arbeiten,  um mit den Rückkehrern adäquat umzugehen.  Aber auch jene in den Gefängnissen müssen wieder integriert werden. Und dann  die große Herausforderung: Wie gehen wir mit den Kindern und Frauen dieser Kämpfer um?  Sie sind in vielen Fällen Täter und Opfer zugleich. Sie brauchen psychologische Unterstützung.  Aber bisher hat niemand  die Zauberformel dafür gefunden, wie man sicher stellt, dass solche Personen  nicht wieder gewalttätig werden.

Wie also umgehen mit den heimkehrenden Kämpfern?
Hunderte sind  ja schon zurückgekommen. Und jeder EU-Staaten versucht  auf seine bestmögliche Weise damit umzugehen. Gab es Gewaltakte, muss das Strafgesetz angewendet werden. Wenn die Person aber nicht  in Gewalt verstrickt war, ist es besser Alternativen  zu suchen als sie in Gefängnisse zu schicken. Denn wir wissen, dass  Gefängnisse Orte sind, wo Radikalisierung besonders gedeiht.

Foto: APA/AFP/AHMAD AL-RUBAYE Irak: Sieg über den Wie und wo kann man  die IS-Kämpfer bei ihrer Heimkehr ausfindig machen?
Die Türkei ist der erste Ort – daher die große Wichtigkeit, mit der Türkei eng zusammenzuarbeiten. Manchmal kann es eine Grenze sein oder ein Flughafen. Zuweilen  kommt einer mit solch komplizierten Reiseroute zurück, dass es auffällt. Etwa Mehdi Nemmouche, der Ex-Syrien-Kämpfer, der später im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen tötete, startete seine Heimreise in Istanbul, flog dann nach Kuala Lumpur, Singapur, Bangkok, Frankfurt und schließlich Frankreich. Er wurde von den deutschen Behörden bemerkt, weil ihnen die seltsame Reiseroute aufgefallen ist.

Als einer der großen Schwächen in der Terrorabwehr galt  lange die mangelhafte Kooperation der europäischen Geheimdienste.  Hat  sich  dies verbessert?
Sehr sogar. Die Kooperation wurde systematisch vertieft. Jetzt gibt es eine gemeinsame Plattform mit Mitarbeitern verschiedener Dienste, die sieben Tage die Woche rund um die Uhr zusammenarbeiten. Die Qualität der Kooperation hat sich signifikant verbessert. Mehr und mehr Geheimdienste füttern das Schengen-Informationssytem mit Daten.   Derzeit läuft unter den Geheimdiensten die Diskussion:  Welches Profil von Radikalisierung soll man mit den anderen Mitgliedsstaaten teilen? In Großbritannien etwa gibt es laut MI5  an die 20.000 Radikalisierte. Davon sind 3000 eine ernsthafte Bedrohung, und  500 von ihnen  werden wirklich überwacht. Aber  sollen nun die Daten von den  20.000 oder den 3.000 oder den 500 ins Schengen Informationssystem gestellt und damit mit den anderen EU-Staaten geteilt werden? Und wie  findet man den speziellen Punkt, an dem ein Radikalisierter tatsächlich beginnt, einen Anschlag vorzubereiten? Gesetzlich gesehen ist es kein Vergehen, radikal zu sein. Aber ein Vergehen liegt vor, wenn man beispielsweise einen Anschlag vorbereitet und dafür in einem Geschäft Düngemittel kauft, um eine Bombe zu bauen oder eine Website besucht, die zur Gewalt aufruft.
Die Geheimdienste versuchen, jene zu identifizieren, die sich auf dem Weg der Radikalisierung befinden. Das ist kein mechanischer Prozess, der immer gleich verläuft. Die Herausforderung für die Geheimdienste ist es also, diese Personen auszumachen, die sich diesem speziellen Punkt nähern.
Auf nationaler  Ebene arbeiten die Dienste untereinander seit den Anschlägen vom 11. September 2001 viel besser zusammen. In Österreich etwa ist das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Teil des Innenministeriums und arbeitet daher eng mit der Polizei zusammen. Die Herausforderung ist nun, diese Kooperation auch auf europäischer Ebene   schlagkräftig zu machen. Wir wollen, dass die Geheimdienste mit dem neu geschaffenen Terror-Abwehrzentrum von Europol enger kooperieren. Denn Europol  bekommt Informationen, die manche einzelne EU-Staaten nicht erhalten, etwa von den USA,  Kanada, Australien.

Und doch waren so viele Attacken trotz der vielen Informationen nicht zu verhindern?
Die Informationen unter den EU-Staaten zu teilen ist eine Sache, aber das reicht nicht. Es geht darum, Daten zu sammeln, sie richtig zu analysieren und den speziellen Punkt auf dem Weg der Radikalisierung  determinieren – da müssen wir alle noch besser werden.   
Aber alle Dienste sind mit einem Tsunami von Daten konfrontiert.  Beim Datensammeln  kämpfen wir nun mit folgendem Problem: Die  Mehrheit der Daten werden aus dem Internet gesammelt, und die meisten Anbieter entwickeln jetzt komplexe Verschlüsselungssysteme.  Und zudem gab es ein Urteil des EU-Gerichtshofes, das besagt, dass man nicht generell, sondern  nur gezielt Meta-Daten suchen darf. Meta-Daten sagen nichts Inhaltliches aus, sondern,  wer etwa wann wem ein Mail-Geschickt hat. Das hilft, die Verbindungen zwischen Leuten offen zu legen, für Ermittlungsarbeit ist das sehr wichtig. Bisher hatte man wegen der  Verschlüsselung keinen Zugang zu  Inhalten, aber wenigsten zu den Meta-Daten. Der EU-Gerichtshof  sagt aber  nun,  das weltweite Sammeln von Meta-Daten seien nicht verhältnismäßig. Das ist ein echtes Problem.   Mit Verschlüsselung und ohne Zugang zu Meta-Daten blüht uns das, was die Amerikaner  als „you go dark“ bezeichnen.

Die einsamen Wölfe, die das Messer oder ihr Auto nehmen, um zu töten. Von ihnen weiß man nichts. Kann man sie aufhalten?
Niemanden sollte glauben, man könnte  verhindern, wenn ein Mensch sein Küchenmesser nimmt und loszieht. Wir können nur unsere Beobachtungs-Fähigkeiten stärken und rechtzeitig  entdecken, wenn  sich ein anderer  radikalisiert. Polizisten, Lehrer, Sozialarbeiter, Eltern müssen besser lernen zu verstehen, wenn sich jemandes Verhalten auffällig ändert. Wir müssen besser darin werden, dieses frühe Stadium zu erkennen. Das ist das einzige, was wir tun können. Wenn ich  mein Auto nehmen und in eine Menge fahre – wer kann mich daran hindern?

Muss man beim IS auch mit Cyber-Angriffen rechnen?
Von Seiten radikaler Islamisten  gibt es  noch keinen Cyber-Terrorismus. Der IS ist derzeit nicht in der Lage, einen Cyberangriff zu starten. Sie nutzen das Internet für ihre Propaganda, aber  für  später ist es nicht auszuschließen. Mit Geld kann man die Expertise einer organisierten Verbrechergruppe kaufen. Also entweder hat man das Geld oder einen Experten, der weiß, wie das geht. Das ist für den IS zwar derzeit nicht der Fall, aber wir müssen schon jetzt dafür Sorge tragen, dass es erst gar nicht so weit kommt.

*Seit zehn Jahren ist der Belgier Gilles de Kerchove (61) Anti-Terror-Koordinator der Europäischen Union.

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