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"Verhaftete sind politische Geiseln"

6-10-2017, 18:00

Der Korrespondent der Welt, Deniz Yücel, sitzt seit Jahresbeginn in Haft, Journalistin Meşale Tolu seit April, Menschenrechtler Peter Steudtner seit Juli 2017. Insgesamt befinden sich derzeit allein 55 Deutsche in türkischen Gefängnissen, zwölf davon aus politischen Gründen. Gegen Yücel liegt nicht einmal eine Anklageschrift vor. Ende August meldete sich Kanzlerin Angela Merkel zu Wort: "Wir verlangen die Freilassung von Deniz Yücel, Peter Steudtner und Meşale Tolu." Ihre Worte halfen nicht. Präsident Recep Tayyip Erdoğan bleibt hart. Wer sich kritisch über das System äußert, muss mit einer Festnahme rechnen. Aber was bezweckt Erdoğan damit? Eine Erklärung gibt Spiegel-Korrespondent Hasnain Kazim, der wegen Erdoğan die Türkei verlassen musste. Nachdem ihm die türkische Regierung die Verlängerung seiner Akkreditierung verweigerte, arbeitet er seit 2016 von Wien aus."Das sind politische Geiseln", sagt der 43-Jährige. "Bei den Fällen, die ich kenne, sehe ich überhaupt keinen Grund, warum sie festgenommen wurden." Meist seien die Vorwürfe absurd. "In vielen Fällen gibt es nicht einmal eine Anklage." Erdoğan nutze diese Menschen, um politische Forderungen bei den jeweiligen Ländern durchzusetzen.

Bazar-Mentalität

Als Beispiel nennt Kazim die Forderung Erdoğans, die Übergabe des inhaftierten US-Pastors Andrew Brunson im Austausch gegen die Auslieferung des muslimischen Predigers Fethullah Gülen. "Gebt ihn uns und wir stellen den (anderen) vor Gericht und geben ihn Euch", sagte Erdoğan. "Das ist kein Rechtssystem, sondern eine Bazar-Mentalität", wundert sich Kazim. Wer Erdoğan kennt, weiß: Anerkennung ist für ihn von großer Bedeutung. Die Fotos von der jüngsten UN-Versammlung, bei der er unzählige Regierungschefs traf, ließ er in regierungsnahen Medien groß drucken.Die Verhaftungen schaden seinem Image. Ist das nicht mehr relevant für ihn? "Doch", sagt Kazim, "aber er legt immer weniger Wert auf die Anerkennung durch den Westen oder durch Türken, die er als pro-westlich sieht. Viel wichtiger ist ihm inzwischen die Anerkennung seiner Anhänger und in der islamischen Welt. Er hat genügend Freunde in anderen Ländern. Es ist eine Abkehr vom Westen."Die allgemeine Stimmung ist seit dem Putschversuch sehr angespannt. "Derzeit werden in der Türkei alle angegriffen, die die Zustände im Land zu kritisieren", klagt Kazim. Man denke nicht über berechtigte Gründe für diese Kritik nach, sondern "verurteilt sie sofort". Nach offiziellen Informationen sind derzeit etwa 54.400 Menschen in Untersuchungshaft. Mehr als 100.000 wurden aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert. Seit mehr als einem Jahr gibt es den Ausnahmezustand, Erdoğan regiert per Notstandsdekret.

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