Andreas Treichl, Präsident des Europäischen Forums Alpbach, ist der Ansicht, dass Othmar Karas (ÖVP), der gerade ausscheidende Erste Vizepräsident des EU-Parlaments, gut für die Position des österreichischen EU-Kommissars geeignet wäre.
"Der europäischste Österreicher, den ich kenne, mit der größten Erfahrung in Europa ist Othmar Karas", so der Präsident des Europäischen Forums Alpbach Andreas Treichl zur APA auf die Frage nach seinem Favoriten für den Posten. Generell wünscht sich der Forumspräsident, dass Österreich in der EU aktiver auftritt.
Treichl: Österreich könnte in EU viel größere Rolle spielen
In den vergangenen 20 Jahren habe sich das Land nicht sehr darum gekümmert, "in Europa wirklich eine Rolle zu spielen, und das kann man nur, wenn man sich darum bemüht, dass man Österreicher in Schlüsselfunktionen in Brüssel und in Frankfurt bekommt", unterstrich Treichl. "Und wenn wir dann noch dazu manchmal sehr eigene Positionen vertreten, die nicht unbedingt als solidarisch angesehen werden, dann hilft das natürlich auch nicht, und das haben wir in den letzten Jahren schon ein paar Mal gemacht."
Dabei könnte Österreich nach Einschätzung Treichls durchaus eine viel größere Rolle spielen, "wenn es wirklich ein Interesse daran hätte, einen wesentlichen Beitrag zu einer besseren, effizienteren und zukunftsorientierten europäischen Politik zu leisten und sich nicht verstecken würde hinter Themen und Dogmen". Stattdessen müsse offen angesprochen werden, "dass sich die Welt dramatisch verändert hat und wir daher unsere Dogmen auch diskutieren müssen".
Europa muss für seine eigene Sicherheit sorgen
Von der neuen EU-Kommission würde sich der ehemalige Spitzenbanker wünschen, "dass sie zu den wesentlichen Themen für Europa eine ganz klare Position einnimmt und das in einer Form macht, dass sie in der Lage ist, die Nationalstaaten auch für ein gemeinsames Agieren zu gewinnen. Das betrifft im Wesentlichen alle unsere brennenden Themen." Treichl nannte unter anderem die Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeit der Europäischen Union. "Es ist meiner Meinung nach eine unbedingte Notwendigkeit - egal wie die Wahlen in Amerika ausgehen -, dass Europa für seine eigene Sicherheit selbstständig sorgen kann."
Das Thema Wettbewerbsfähigkeit sollte ebenso gemeinsam in Angriff genommen werden wie der Green Deal. "Es ist nicht alles negativ, es gibt auch positive Entwicklungen, aber einige positive Entwicklungen sind in der heutigen Zeit eben nicht genug, sondern es muss viel mehr passieren, wenn Europa wieder an seine Erfolgsgeschichte, die es ja gegeben hat, anschließen will." Es sei auch eine Tatsache, "dass Europa in den letzten 20 Jahren in allen neuen Industrien keine wesentliche Rolle mehr spielt und wir uns derzeit damit abfinden müssen, dass wir - von der Digitalisierung über die Künstliche Intelligenz und alle anderen neuen industriellen Bereiche - zwar hervorragende Wissenschafter und hervorragende Unternehmer haben, aber eben nicht genügend Kapital, um dem, was in Amerika und in China passiert, etwas entgegenzustellen. Das hatten wir in der alten industriellen Welt. Das haben wir in der neuen industriellen Welt nicht mehr."
Es sei Aufgabe der Politiker in den Nationalstaaten, den Menschen zu vermitteln, dass kein Land allein mehr in der Lage sei, mit den großen Problemstellungen der Zeit fertig zu werden. "Die Politiker, die jetzt sagen, wir wollen weniger Europa, haben viel Berechtigung dazu, weil die Europäische Union sich mit Sachen beschäftigt und den Ländern aufoktroyiert hat, die zu einem Teil sicher keinen Mehrwert geschaffen haben." Eine gemeinsame Energieversorgung, eine gemeinsame Verteidigung und das gemeinsame Aufbauen einer Infrastruktur, "die es wieder erlauben würde, dass Europa mit den anderen großen wirtschaftlichen Blöcken auf der Welt mithalten kann", sei aber auch für das langfristige Wohlergehen der Bürger in den Nationalstaaten wesentlich, und das komme "viel zu wenig stark rüber", sagte Treichl. Um Veränderungen im Verhalten der Politiker herbeizuführen, müssten diese entsprechend Druck verspüren, "und ich glaube, dass es daher sehr wichtig ist, dass wir die wesentlichen Themen, die Europa wieder nach vorne bringen, entideologisieren. Das Thema Sicherheit, das Thema Verteidigung, das Thema Wettbewerbsfähigkeit, das Thema Energie, das Thema Umwelt sind in Wirklichkeit keine ideologischen Themen, sondern notwendige Voraussetzungen für die Schaffung von breitem Wohlstand."
Treichl: Politik braucht Weitsicht und Mut
Leider gebe es viele politische Kräfte, "die das nicht propagieren, sondern die sagen, wir sind besser dran, wenn die Europäische Union eine möglichst geringe Rolle spielt und wir alles selber machen können. Das ist eine sehr altmodische und kurzsichtige Sichtweise, und das ist ein bisschen zurück in die gute alte Zeit, und das spielt sich leider nicht mehr, denn die gute alte Zeit ist in Asien vorbei, die ist in Amerika vorbei, und Europa kann sich davon nicht abkapseln." Für einen anderen Zugang bräuchten Politiker freilich nicht nur Weitsicht, sondern auch Mut. "Den Weg, den Europa in den letzten Jahren eingeschlagen hat, den kann man nicht in einem Jahr verändern." Europa habe von 1945 bis 1995 "eine unfassbare Erfolgsgeschichte geschrieben", von der es noch heute profitiere. Um an diese Erfolgsgeschichte anschließen zu können, brauche es allerdings Politiker, die in Zeithorizonten von 20 oder 30 Jahren denken. "Das heißt, es müssen viele Politiker da sein in Europa und in den Nationalstaaten, die sich voll bewusst sind, dass sie den Erfolg ihrer Politik persönlich nicht ernten werden, sondern dass ihre Nach-Nach-Nachfolger diesen Erfolg ernten werden. Und davon haben wir leider sehr wenige."
Ein Umdenken könnte aus Sicht Treichls durch Druck von unten erzielt werden. "Wir werden in Europa keine Welt schaffen, wo Politiker nicht wiedergewählt werden wollen und eine wirklich ausschließlich zukunftsorientierte Politik machen. Also muss man extrem viel tun als Wirtschaft, als Zivilgesellschaft, als Medien, um der Bevölkerung diese Themen so nahe zu bringen, dass sie an diese Chance und an diese Notwendigkeit, dass Europa vieles gemeinsam tun muss, glauben und es verstehen." Wenn das passiere, dann würden sich die Politiker auch darauf einstellen. "Wenn die Politik spürt, dass die Mehrheit der Bevölkerung dieses Landes auch ein Interesse daran hat, dass wir wirklich attraktive Eisenbahnverbindungen in ganz Europa haben, wenn das zu einem Thema wird, mit dem man Wahlen gewinnen kann, dann wird es die Politik machen." Genau zu diesem Druck von unten wolle auch das Europäische Forum Alpbach einen Beitrag leisten. Dabei strebe man auch nach "höchstmöglicher politischer Diversität", so Treichl. "Wir wollen in Alpbach den Diskurs haben, dass sich sehr linksorientierte und sehr grünorientierte junge Menschen mit sehr unternehmerisch orientierten jungen Menschen auf gemeinsame Themen einigen können." Denn eine Verteidigungs-, Telekommunikations- oder Kapitalmarktunion sei eben keine ideologische Frage, sondern "ganz einfach eine Voraussetzung für das Wohlergehen Europas und der Europäerinnen".