Pro Jahr gehen bei der Polizei 10.000 bis 12.000 Vermisstenanzeigen ein. Die meisten davon betreffen Jugendliche - häufig in Verbindung mit einer Flut an Hinweisen in den sozialen Medien.
"Oft sind es besonders abstruse Theorien, die hier verbreitet werden", sagte Stefan Mayer vom Bundeskriminalamt (BK) im Vorfeld des Tages der vermissten Kinder am Samstag zur APA. "Das Internet erleichtert hier unsere Arbeit nicht immer", so der Kriminalbeamte.
Mayer über Postings: "Dort wird allerhand Unwahrscheinliches verbreitet"
Postings in sozialen Medien oder Webseiten zu tun bereiteten ihm und seinen Kollegen regelmäßig Kopfzerbrechen. "Dort wird allerhand Unwahrscheinliches verbreitet", so Mayer, der im BK das Kompetenzzentrum für abgängige Personen (KAP) leitet. Die Palette reiche dabei von Vermissten, die als Sexsklaven "irgendwo eingesperrt sind" bis hin zu angeblichen Aufenthaltsorten von Abgängigen. "Die Angehörigen lesen das dann und das ist natürlich ein Hammer für sie", führte Mayer aus.
Auch der erst vor kurzem geklärte Fall einer fast Zweijährigen in Serbien, die im April vermisst und dann bei einer Mülldeponie nur mehr tot aufgefunden wurde, sei beispielhaft für den leichtfertigen Umgang mit Hinweisen im Netz. Am Osterwochenende war ein von einem in Wien lebenden Serben gemachtes Video in serbischen Online-Portalen aufgetaucht, das zwei rumänisch sprechende Frauen mit einem Mädchen beim Schottenring zeigte. Der Mann hatte angegeben, dass es sich um die Gesuchte handeln könnte. Weil auch die Angehörigen die Vermisste wiedererkannten, startete die Wiener Polizei eine Öffentlichkeitsfahndung. Wenig später stellte sich heraus, dass es sich bei dem Kind nicht um das vermisste Mädchen handelte.
Mayer sieht Einbeziehung der Öffentlichkeit in Vermisstenfälle kritisch
Mayer sieht die Einbeziehung der Öffentlichkeit in Vermisstenfällen durchaus kritisch, gerade bei Kindern und Jugendlichen. "Ich weise die Angehörigen vor Veröffentlichungen auf Facebook immer darauf hin, dass unter Umständen wirklich unangenehme, auch verletzende Rückmeldungen in den Kommentaren auftauchen können. Wie sich solche Veröffentlichungen entwickeln, kann man eben nicht voraussehen", so Mayer. Angehörige seien nach Veröffentlichungen in den sozialen Medien oft massiven Hass im Netz ausgesetzt. Sorge bereitet dem Experten dabei auch der zunehmende KI-Trend. "Wenn dann das Gesicht einer vermissten Person mittels Deepfake irgendwo auftaucht, dann wird es schwierig für uns, das zu widerlegen", so Mayer.
Deutlich mehr Öffentlichkeitsarbeit im Fall von Vermisstenfällen betreibt hingegen der pensionierte Polizeibeamte Christian Mader vom "Verein Österreich findet euch". Die Initiative des ehemaligen Vermisstenfahnders und mittlerweile pensioniertem Polizeibeamten veröffentlicht die Profile von vermissten Personen im Internet und bietet betroffenen Angehörigen Rechts- und psychologische Beratung. "Wir sind nicht die Polizei, aber wir können unterstützen", so Mader. "Wer kann besser helfen als die Zivilgesellschaft." Der Datenschutz bei den Veröffentlichungen werde geachtet. "Wir haben noch nie Beschwerden bekommen."
Anghörige verschwundener Personen stehen oft alleine da
Oft stünden Angehörige verschwundener Personen alleine da, erzählte Mader. Diese Lücke wolle man schließen. "Bei Todesfällen kommt die Polizei mit dem Kriseninterventionsteam bei der Überbringung der Todesnachricht und man versucht, die Betroffenen etwas aufzufangen", sagte Mader. "Im Fall einer Abgängigkeit bekommen Angehörige wenig Unterstützung. Da gehen sie zur Polizei, machen die Anzeige und sind alleine."
Laut Bundeskriminalamt sind 75 Prozent aller vermissten Personen Minderjährige. Mit Stand 1. Mai 2024 galten 1.015 Kinder und Jugendliche in Österreich als vermisst. Oft kämen diese aus Betreuungseinrichtungen, Krisenzentren oder WGs, sagt Mayer. "Sehr oft sind es die gleichen Minderjährigen. Wir haben Fälle, die sind auch hundertmal abgängig."
Zu 85 Prozent tauchen Vermisste innerhalb einer Woche wieder auf, zu 95 Prozent innerhalb eines Monats und zu 98 Prozent innerhalb eines Jahres. In 65 bis 70 Prozent der Fälle kehren die Vermissten von selbst wieder zurück und in etwa 20 bis 25 Prozent findet sie die Polizei. Pro Jahr werden etwa 100 Abgängige nur mehr tot aufgefunden. Von allen innerhalb eines Jahres angezeigten Fällen bleiben fünf bis zehn Fälle ungelöst.
Die Polizei appelliert in Zusammenhang mit Vermisstenfällen zur sofortigen Anzeigeerstattung. Allfällige Fragen beantwortet das KAP im Bundeskriminalamt: +43 (0)1 24 836-985025, [email protected] Psychologische Unterstützung bekommen Angehörige von vermissten Kindern und Jugendlichen unter anderem bei der 116000-Hotline für vermisste Kinder. Der Verein "Österreich findet euch" bietet ebenfalls psychologische- sowie Rechtsberatung unter [email protected]
(Von Nikolaus Pichler/APA)