Die Zahl der in Österreich gemeldeten antisemitischen Vorfälle pro Tag hat stark zugenommen.
Die Zahl hat sich seit dem Angriff der Hamas auf Israel verfünffacht. Wurden in Österreich bis zum 7. Oktober 2023 im Schnitt 1,55 Vorfälle gemeldet, waren es danach 8,31. Die Gesamtzahl der gemeldeten Vorfälle lag im Vorjahr bei 1.147 und stellt damit einen Negativrekord dar. "Eine Horrorzahl", fasste IKG-Präsident Oskar Deutsch den am Mittwoch präsentierten Jahresbericht der Antisemitismus-Meldestelle zusammen.
"Explosion der antisemitischen Vorfälle"
Wir haben es mit einer noch nie da gewesenen Explosion der antisemitischen Vorfälle zu tun", sagte Deutsch. Mit 1.147 gemeldeten Fällen stellt das Jahr 2023 selbst das von der -Pandemie und damit verbundenen Demonstrationen und auch antisemitischen Verschwörungstheorien geprägte Jahr 2021 (965 Vorfälle) in den Schatten. Der heurige Wert stellt den höchsten seit Beginn der Erfassung 2008 dar. "Man muss den Bericht aber in zwei Teile teilen. Es gibt die Zeit bis zum 7. Oktober, und die Zeit danach", sagte Deutsch.
Mit Ausnahme der Monate Jänner (65) und März (79) bewegten sich die Vorfälle im vergangen Jahr quantitativ im langjährigen monatlichen Durchschnitt, beziehungsweise darunter. Im September wurde mit 24 Vorfällen - "immer noch 24 zu viel", wie Deutsch betonte - gar der drittniedrigste Wert seit Bestehen der Meldestelle gemessen. "Und dann kamen die erschreckenden Monate Oktober bis Dezember". Im Oktober wurden 200, im November 226 und im Dezember 294 Fälle gemeldet und damit allein in diesen drei Monaten mehr als im ganzen Jahr 2022 (719). "Das sind aber nur die Vorfälle, die der Meldestelle gemeldet worden sind", die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Mehr physische Angriffe
Gestiegen ist auch die Zahl der physischen Angriffe, von 14 auf 18. IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele erinnerte hier an den Brandanschlag auf den jüdischen Friedhof in Wien. Leicht zurückgegangen sind die Bedrohungen, von 21 auf 18, gestiegen hingegen die Sachbeschädigungen von 122 auf 149. Den allergrößten Teil der gemeldeten Fälle machten aber Massenzuschriften (536 Fälle), vor allem in Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt, und verletzendes Verhalten (426) aus. "Antisemitismus beginnt mit dem Gedanken, wird gefolgt vom Wort und geht dann in die Tat über (...) Antisemitismus beginnt nicht mit der Gaskammer", sagte Deutsch.
Ideologisch seien 34 Prozent der Fälle von rechts, 18 von links und 25 muslimisch motiviert gewesen, heißt es in dem Bericht. Besonders bei den Angriffen und den Bedrohungen würden muslimische Tatmotive deutlich überwiegen, Sachbeschädigungen und verletzendes Verhalten, wie etwa der Fall einer in einem ÖBB-Waggon abgespielten Hitler-Rede, kommen zum größten Teil von rechts. "Den Betroffenen ist es am Ende des Tages aber komplett egal", aus welcher Richtung die Vorfälle begangen werden, so Deutsch.
Im Zusammenhang mit Anti-Israel-Demonstrationen wünscht sich Deutsch eine schnellere Justiz. "Es werden zwar immer wieder Anzeigen gemacht, es wäre aber wichtig, dass die auch zu Verurteilungen führen." Man solle "ein, zwei Fälle" schnell behandeln, "um den Antisemiten zu zeigen, dass Antisemitismus kein Kavaliersdelikt ist".
Psychosoziale Unterstützung und Rechtsberatung
Neben der Erfassung antisemitischer Vorfälle bietet die Meldestelle Betroffenen psychosoziale Unterstützung und stellt Rechtsberatung zur Verfügung. Alle Vorfälle, die strafrechtlich relevant sein könnten, werden durch die Rechtsabteilung geprüft, und sofern die Betroffenen das möchten, wird auch Anzeige erstattet.
Seit dem Angriff der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel sei für Juden und Jüdinnen "die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" verschwunden, viele würden aus Angst keine religiösen Symbole mehr tragen. Im Kampf gegen Antisemitismus, der auf der ganzen Welt steige, "gibt es keinen Knopf, den man drücken kann. Ich kann der Regierung nicht viel raten als den Weg weiterzugehen, und das relativ schnell", antwortete Deutsch auf eine entsprechende Journalistenfrage. "Wir lassen uns aber nicht unterkriegen. Unser jüdisches Leben findet ganz normal statt."
Nicht glaubhaft im Kampf gegen Antisemitismus sei für ihn die FPÖ. "Die Burschenschafter sitzen im Parlament, die Identitären werden mit offenen Armen aufgenommen. Und mehr möchte ich zu denen nicht sagen, weil sie es nicht wert sind."
"Entsetzt, aber nicht überrascht"
"Entsetzt, aber nicht überrascht" ob dieser Zahlen zeigte sich in einer Aussendung die SPÖ-Sprecherin für Erinnerungskultur, Sabine Schatz. "Mit der Strategie gegen Antisemitismus haben wir einen gemeinsamen Maßnahmenplan auf den Weg gebracht, wir dürfen uns aber nicht auf dem Erreichten ausruhen, sondern müssen gegebenenfalls nachschärfen", fordert Schatz. Das passiere derzeit auch: Momentan arbeite die Bundesregierung an einer Erweiterung der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus für den digitalen Raum, betonte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). "Antisemitismus, egal aus welcher Ecke und in welcher Form, ob importiert oder althergebracht, ob online oder analog, hat bei uns keinen Platz."
"Antisemitismus kommt von allen Seiten"
"Mehr Engagement gegen Antisemitismus" möchte die grüne Antisemitismus- und Rechtsextremismussprecherin Eva Blimlinger sehen. "Antisemitismus kommt von allen Seiten und das bedeutet, dass wir ihm überall begegnen müssen: Mehr Bildungsprogramme und vor allem Sensibilisierung und Deradikalisierungsprogramme in Schulen sind essenziell, um diesen Entwicklungen entgegen zu wirken", kommentierte sie den Bericht. Entsetzt sei sie auch über antisemitische Strömungen an Universitäten.
Kritik an der Bundesregierung kam indes von den NEOS. "Bildung ist der Schlüssel für Toleranz, Akzeptanz und ein respektvolles Miteinander. Wann versteht das diese Bundesregierung? ÖVP und Grüne müssen ausreichend Mittel zur Verfügung stellen, um die Schulen bei der wichtigen Aufgabe der Demokratiebildung zu unterstützen", forderte die pinke Sprecherin für Inneres, Stephanie Krisper.