Die österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek
ist nach wie vor eine der zentralen literarischen Stimmen der Zeit -
auch wenn 76-Jährige die Öffentlichkeit eigentlich meidet wie der Teufel
das Weihwasser. Der deutschen Dokufilmerin Claudia Müller ist es
dennoch gelungen, für ihren Film "Die Sprache von der Leine lassen" die
Autorin zu einem Gespräch zu treffen, wenn auch ohne Kamera. Aus diesem
und zahlreichen Archivaufnahmen mutiert Müller ein vielschichtiges Werk
über eine vielschichtige Frau. Der Rote Faden, der sich durch das Werk
zieht, ist dabei Jelineks spezieller Umgang mit der Sprache.
Einen über eineinhalbstündigen Porträtfilm über eine Vielporträtierte zu machen, die sich seit fast zwei Jahrzehnten aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, und dabei mit vielen wenig bekannten Aussagen aufzuwarten, ohne selbst ein neues Interview gedreht zu haben - dieses Kunststück gelingt Claudia Müller mit "Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen". Nach der Premiere auf der heurigen Viennale ist der neue Dokumentarfilm nun ab Donnerstag im Kino zu sehen.
Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen: Kurzinhalt zum Film
Die 1964 geborene deutsche Dokufilmerin Claudia Müller hat bereits Filme über Jenny Holzer, Shirin Neshat, VALIE EXPORT, Hans Neuenfels oder Helmut Lang gedreht. Seit langem wollte sie auch die für den "musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen" mit dem Nobelpreis ausgezeichnete österreichische Autorin und ihre Sprache ins Zentrum eines Filmes stellen. Tatsächlich gelingt ihr dieses Vorhaben hervorragend, indem sie verschiedenste Ebenen zueinander in Beziehung setzt.
Einerseits hat Müller mit ihrer Editorin Mechthild Barth jede Menge altes Film- und Videomaterial aufgetrieben, das selbst für manche Kenner neu sein dürfte. Diese ruhigen und reflektierten Selbstaussagen Jelineks zu ihrer Kindheit und Jugend, zur dominanten Mutter, zum jüdischen Vater, der am Ende seines Lebens in die Nervenklinik kommt, vor allem aber zu Antrieb und Methodik ihres Schreibens, bilden den stringent montierten Hauptfluss der Erzählung, der über zwei Nebenarme verfügt.
Zum einen illustriert Found-Footage-Material die Atmosphäre jener Kindheits- und Jugendjahre, die Jelinek
selbst als prägend beschreibt, zum anderen hat Müller eine Textcollage
zusammengestellt, die - gelesen von Ilse Ritter, Sandra Hüller, Stefanie
Reinsperger, Sophie Rois, Maren Kroymann und Martin Wuttke - Jelineks
dargelegte Poetologie auch praktisch beglaubigt. Die Unerbittlichkeit,
Beharrlichkeit und Schärfe der Analyse bekommt hier ebenso Raum wie
Ironie, Witz und spielerische Leichtigkeit. Die Stimmen ihrer Texte
gehörten nicht Handelnden, sondern Ausführenden, sagt die Autorin. Die
allgemeinen Verhältnisse seien stets stärker als der Wille des
Einzelnen. "Ich weise nach, dass es den Freiraum des Handelns nicht
gibt."
Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen: Die Kritik
Eingerahmt von den "Schockmomenten" rund um den Nobelpreis
2004 werden Werdegang und Werkgeschichte chronologisch behandelt. Die
von der Mutter einem beinharten musikalischen Drill Unterworfene bricht
Richtung Literatur aus, "denn das war die einzige Kunstgattung, die
meine Mutter nicht gefördert hat", und gewinnt 1969 den Innsbrucker
Jugendliteraturpreis gleich in beiden Sparten, in Lyrik und Prosa. Ihre
Suche nach neuen sprachlichen Ausdrucksformen startet sie aus einer
großen Nähe zur Wiener Gruppe.
Man sieht Ausschnitte aus dem
"Literarischen Quartett", das über ihren Roman "Lust" herzieht, und wird
an den Skandal rund um ihr Stück "Burgtheater" erinnert, in dem sie die
Mitwirkung von Paula Wessely an dem NS-Propagandafilm "Heimkehr"
anprangerte. "Da hab ich meinen guten Namen verloren", erinnert sich Jelinek.
"Seither gelte ich als Nestbeschmutzerin." Für ein neues Interview vor
der Kamera stand die Autorin zwar nicht zur Verfügung, doch in der
Tonspur ist sie mit manchen einordnenden Aussagen präsent, die aus einem
Gespräch stammen, das die Regisseurin im Sommer 2021 mit ihr führen
konnte. Das war noch vor Bekanntwerden des Todes von Jelineks
Ehemann Gottfried Hüngsberg, der Anfang September im Alter von 77
Jahren verstarb, wie die Nobelpreisträgerin gegenüber dem ORF mit den
Worten "Ich bin am Boden" bekannt gab.
Müller zeigt indes Ausschnitte von Jelineks
Heinrich-Böll-Preis-Rede "In den Waldheimen und auf den Haidern" (1986)
und beleuchtet die politische Auseinandersetzung u.a. mit einem
Haider-Kommentar und der Erinnerung an das FPÖ-Wahlplakat, auf dem Jelinek
quasi als Gegensatz zu "Kunst und Kultur" dargestellt wurde. Über das
Oberwart-Stück "Stecken, Stab und Stangl" und das "Sportstück" kommt man
zum Roman "Die Kinder der Toten", den die Autorin als ihr Hauptwerk
ansieht.
Internationale Pressestimmen zu ihrem Nobelpreis werden mit Wiener Passantenstatements über Jelinek gegengeschnitten. Nach dem Nobelpreis zieht sich Jelinek aus der Öffentlichkeit zurück: "Jetzt erkläre ich nichts mehr." Noch einmal hört man die Musik von Eva Jantschitsch und sieht eine beeindruckende Liste über die Leinwand laufen. Es ist die Liste jener Werke, die Elfriede Jelinek seit 2004 veröffentlicht hat. Sie beweist: Ihre Stimme ist noch lange nicht verstummt.