Knapp vier Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine empfahl die EU-Kommission am Freitag, die Ukraine offiziell zu einem Beitrittskandidaten zu ernennen. Hier die Details.
Korruption auf höchster Ebene, Defizite bei Rechtsstaatlichkeit und schwerwiegende wirtschaftliche Probleme: Noch Anfang dieses Jahres schien es undenkbar, dass die Ukraine in absehbarer Zeit Kandidat für den Beitritt zur EU werden kann. Knapp vier Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen das osteuropäische Land ist die Welt nun eine ganz andere. Die EU-Kommission empfahl am Freitag, die Ukraine offiziell zu einem EU-Beitrittskandidaten zu ernennen.
EU-Beitrittskandidaten Ukraine: Was bedeutet eine Empfehlung?
Erst
einmal nicht viel. Die Entscheidung über den Kandidaten-Status müssen
letztlich die Regierungen der 27 EU-Staaten treffen. Die EU-Staats- und
Regierungschefs - darunter Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) - werden
erst am kommenden Donnerstag bei einem Gipfel in Brüssel über das Thema
beraten.
Wird es eine Einigung der EU-Staaten geben?
Das ist alles andere
als sicher. Die Positionen der Mitgliedstaaten lagen zuletzt weit
auseinander. Staaten wie Polen, Estland, Litauen, Lettland oder Irland
dringen seit Wochen darauf, die Ukraine
zügig zum EU-Kandidaten zu machen und damit auch ein Zeichen gegen
Russland zu setzen. Skeptisch war bis zuletzt insbesondere Portugal.
Auch Österreich stellte zuletzt Bedingungen für eine Zustimmung.
Was sind die Argumente der Erweiterungsgegner?
Sie sind der Ansicht, dass die mehr als 40 Millionen Bürger zählende Ukraine
bei weitem nicht die Voraussetzungen erfüllt, die Grundlage für einen
erfolgreichen Start des Beitrittsprozesses sind. Zudem wird darauf
verwiesen, dass sich die 27 EU-Staaten bereits jetzt oft schwertun,
gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Österreich fordert darüber hinaus
Fortschritte bei der EU-Annäherung der Westbalkan-Staaten, die seit
Jahren in der Warteschleife hängen. Auch Bosnien-Herzegowina müsse den
Kandidaten-Status bekommen, wenn ihn die Ukraine bekommt, forderte Bundeskanzler Nehammer.
Welche Bedingungen muss ein Land für den EU-Beitritt erfüllen?
Relevant
sind vor allem die sogenannten Kopenhagener Kriterien, die 1993 bei
einem EU-Gipfel in der dänischen Hauptstadt festgelegt worden sind. Zu
ihnen gehören institutionelle Stabilität, eine funktionsfähige
Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den
Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten. Zudem müssen
Kandidatenländer unter anderem das äußerst komplexe und umfassende
EU-Recht anwenden können und gewährleisten, dass es wirksam durch die
nationale Verwaltung und Justiz umgesetzt wird. Auch muss die EU selbst
in der Lage sein, neue Länder aufzunehmen und zu integrieren.
Kann die Ukraine diese Voraussetzungen erfüllen?
Das
ist äußerst unwahrscheinlich. Der Europäische Rechnungshof stellte dem
Land noch im vergangenen September ein verheerendes Zeugnis aus. "Obwohl
die Ukraine
Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält,
untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die
Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes", hieß es damals zu einem Sonderbericht.
Zwar
hätten EU-Projekte und EU-Hilfe dazu beigetragen, die ukrainische
Verfassung sowie eine Vielzahl von Gesetzen zu überarbeiten. Die
Errungenschaften seien allerdings ständig gefährdet, und es gebe
zahlreiche Versuche, Gesetze zu umgehen und die Reformen zu verwässern.
Das gesamte System der strafrechtlichen Ermittlung und Strafverfolgung
sowie der Anklageerhebung bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene sei
alles andere als gefestigt.
Hat die EU-Kommission Defizite und Bedenken einfach ignoriert?
Ignoriert wurden sie nicht, aber hinten angestellt. Die Empfehlung der Kommission lautet, der Ukraine
sofort den Kandidatenstatus zu geben. Lediglich der Start von
Beitrittsverhandlungen soll an Reformauflagen geknüpft werden. Sie
beziehen sich beispielsweise auf das Justizwesen, die
Wirtschaftsstruktur und die Bekämpfung von oligarchischen Strukturen.
Ist der Kandidaten-Status mit Finanzhilfen verbunden?
Für
die Beitrittskandidaten stellt die EU sogenannte Heranführungshilfen
bereit: Geld aus dem EU-Haushalt, das etwa den Wandel der Gesellschaft,
des Rechtssystems und der Wirtschaft der Länder auf dem Weg in EU
unterstützen soll. Für den Zeitraum von 2021 bis 2027 sind 14,16
Milliarden Euro eingeplant. Einen Automatismus zwischen
Kandidaten-Status und Finanzhilfe gibt es allerdings nicht. Sie müsste
von der EU-Kommission gesondert empfohlen und dann von den
Mitgliedstaaten beschlossen werden.
Wird ein Kandidat auf jeden Fall irgendwann EU-Mitglied?
Nein,
der Kandidatenstatus sagt über einen Beitritt noch gar nichts aus und
ist auch nicht mit einem Zeitplan verbunden. Beispiel Türkei: Das Land
ist seit 1999 EU-Beitrittskandidat - und war wohl noch nie so weit von
einer Mitgliedschaft entfernt wie heute. Relevant ist auch, dass jeder
Schritt der Annäherung immer wieder einstimmig von der EU-Staaten
beschlossen werden muss.
Welche Rolle spielt Russlands Angriffskrieg?
Vermutlich eine zwiespältige. Auf der einen Seite hätte die Ukraine
ohne den Krieg wohl niemals so schnell die Chance auf den
Kandidaten-Status bekommen. Auf der anderen Seite dürfte der Krieg die
Bemühungen erschweren, die Reformauflagen für den Beginn der
Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Zudem gilt als ausgeschlossen, dass
die Ukraine vor dem
Ende des Krieges EU-Mitglied werden kann. Als EU-Mitglied könnte Kiew
dann nämlich nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen
Beistand von anderen EU-Staaten einfordern und die EU könnte offiziell
Kriegspartei werden.
Welche Bedeutung hat der Kandidaten-Status für die Ukraine?
Die
Annäherung an die EU hat für das Land im Krieg eine überragende
Bedeutung gewonnen. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt sie immer
wieder zu einer historischen Frage und betont, dass die Ukraine gegen Russland auch die EU und deren Werte verteidige. Die kalte Schulter der EU wäre wohl auch für die Moral der kämpfenden Ukrainer ein herber Rückschlag - und ein Glücksfall für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Welche Länder streben noch in die Europäische Union?
Bereits
Beitrittskandidaten sind neben der Türkei die Länder Albanien,
Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Hinzu kommen Bosnien-Herzegowina
und das Kosovo als sogenannte potenzielle Kandidaten. Kurz nach der Ukraine
hatten sich im März zudem auch Georgien und Moldau beworben. Für diese
beiden Länder gab die EU-Kommission am Freitag ebenfalls Empfehlungen.
Moldau soll demnach ebenfalls den EU-Kandidatenstatus bekommen, Georgien
wenn es bestimmte Reformauflagen erfüllt hat.