Bundeskanzler Karl Nehammer wird einem EU-Beitrittskandidatenstatus der Ukraine nur mit dem Status anderer Beitrittswerber zustimmen. Dies stelle er bei seinem Besuch in Estland klar.
Für Österreich ist es "Bedingung", dass wenn die Ukraine einen Beitrittskandidatenstatus erhalte, "das Gleiche auch für die Staaten des Westbalkans gilt und für die Republik Moldau", so Nehammer in einer Pressekonferenz mit der estnischen Premierministerin Kaja Kallas.
Kallas unterstützt gemeinsamen Beitrittsprozess
Auch Kallas sagte, einen gemeinsamen Beitrittsprozess zu unterstützen. Gleichzeitig mahnte sie aber, die Chance zu nutzen, dass alle Kräfte in der Ukraine jetzt bereit seien, schwierige Reformen umzusetzen. Die günstige Gelegenheit ("window of opportunity") sei nur kurz, später könnte es Differenzen geben und immer schwieriger werden.
Gefragt nach dem österreichischen Vorschlag einer schrittweisen Annäherung und einem europäischen "Vorbereitungsraum" für EU-Bewerber antwortete Kallas, es sei wichtig, "dass die Lage nicht komplizierter wird". Alle Staaten, die die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verfolgen, müssten eine Chance bekommen. "Wir dürfen diese Staaten nicht beiseiteschieben", betonte Kallas, die aber auch einräumte, dass es über den Vorschlag mehr Diskussion brauche.
Nehammer erklärte Entschluss zu EU-Beitrittskandidatenstatus nur mit anderen
Nehammer erklärte,
dass der Vorschlag nicht von ihm, sondern von Seiten des russischen
Präsidenten Emmanuel Macron gekommen war. Er plädierte für "Redlichkeit
und Ehrlichkeit in dieser Diskussion", das schlechteste Beispiel sei der
Kandidatenstatus der Türkei, der schon 59 Jahre anhalte. Nehammer
meinte damit offenbar den ersten Antrag der Türkei auf Mitgliedschaft in
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den 1960er Jahren.
EU-Kandidatenstatus hat das Land seit dem Jahr 1999, nachdem es im Jahr
1989 das zweite Mal einen Beitrittsantrag eingereicht hatte.
Manche Länder zu 100 Prozent von Russland abhängig
In
Bezug auf ein Gasembargo sagte Kallas, dass sie sehr stolz sei, dass
bereits sechs Sanktionspakete beschlossen wurden und bei jedem
Sanktionspaket werde es schmerzhafter. "Es geht darum, wie viel Leid wir
aushalten können." Unterschiedliche Staaten seien von der
Energieabhängigkeit von Russland unterschiedlich betroffen. Manche
Länder seien zu 100 Prozent von Russland abhängig. Davon loszukommen
brauche Zeit.
Notwendigkeit mit allen Beteiligten zu sprechen
Angesprochen auf Gespräche mit dem russischen
Präsidenten Wladimir Putin zeigten sich unterschiedliche Ansichten.
Nehammer betonte, dass es notwendig sei, mit allen am Krieg Beteiligten
zu sprechen, um den Krieg zu beenden. Es gehe um sichere Korridore für
Lebensmittel und humanitäre Hilfe sowie um einen Gefangenenaustausch,
was einer Gesprächsbasis bedürfe. "Ich halte es richtig und wichtig,
Putin mit seinen Kriegsverbrechen zu konfrontieren."
Kallas vertritt anderen Standpunkt
Anders sah
dies Kallas: Sie vertrete den Standpunkt, dass Putin auch nach den
Gesprächen mit westlichen Politikern seine Ziele nicht geändert und auch
am Donnerstag noch versichert habe, dass er große imperialistische
Pläne habe. "Ich glaube nicht daran, dass es sinnvoll ist, mit ihm zu
sprechen." Sie glaube auch nicht an seinen guten Willen. Die Gespräche
dienten eher dazu, seine eigene Narrative zu verbreiten. Putin sollte
Signale bekommen, dass er für die Kriegsverbrechen in der Ukraine zur
Verantwortung gezogen werde.
Estland in Bezug auf Russland sensibel
Estland ist in Bezug auf Russland sensibel. Nach der Loslösung vom alten Russland 1918 folgten Jahre der blutigen Kämpfe zwischen Gegnern und Befürwortern des Kommunismus, die vor allem von Deutschland auf der einen und von der Sowjetunion auf der anderen Seite unterstützt wurden. Das Obsiegen der anti-kommunistischen Kräfte im Baltikum hat bis zum heutigen Tag Auswirkungen auf das Verhältnis zu Russland und auch im Verhältnis zu den jeweiligen russischsprachigen Minderheiten im eigenen Land, die rund ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Im Zweiten Weltkrieg wurde Estland abwechselnd von der Sowjetunion und Hitler-Deutschland besetzt. Nach Kriegsende war der Baltenstaat bis 1991 unfreiwillig Teil der Sowjetunion. Seit 2004 gehört Estland der EU und der NATO an.Es handelte sich um den ersten Besuch eines österreichischen Bundeskanzlers in Tallinn. Im Anschluss an das Gespräch mit Kallas besuchte Nehammer den Tallinner Wasserflughafen samt Meeresmuseum.