Der Alltag der Bevölkerung Charkiws wurde am 24. Februar, dem Tag andem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, radikal verändert.
Bereits dieser erste Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde von den Bewohnern der zweitgrößten Stadt des Landes durch Beschuss und Kämpfe in der unmittelbaren Nachbarschaft begleitet. Immer mehr Menschen mussten aus ihren zerstörten oder in Frontnähe liegenden Häusern in den Untergrund der Stadt fliehen. Drei Monate später spielt sich das Alltagsleben immer noch in den Metrostationen ab.
Im Untergrund eingerichtet: Alltag in zerstörtem Charkiw
Links und rechts wird an den Wänden ein Konzert von Thomas Anders angekündigt, es wird nicht mehr stattfinden können. Am Ende des langen unterirdischen Ganges, direkt beim Eingang in die eigentliche Metrostation, warten drei Hunde. Es sind Streuner, die man ebenfalls hier herunter brachte, um sie vor Raketen, Bomben und Artilleriefeuer zu schützen. Seit Wochen, oft sogar seit Monaten harren die Menschen in den U-Bahn-Stationen einige Meter unter der Erde aus. Manche kommen beinahe jeden Tag für kurze Zeit an die "frische" Luft - doch auch oben in der Stadt riecht es nach Verbrennung.
UKRAINE-CRISIS/KHARKIV
© REUTERS/Ivan Alvarado/Vitalii Hnidyi
Menschen in Charkiw müssen regelmäßig ans Tageslicht
Nicht
wenige Menschen, die hier herunten ihrem gänzlich neuen Alltag
nachgehen, müssen sogar einigermaßen regelmäßig ans Tageslicht: Nicht
unbedingt, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Die unzähligen
ebenfalls hier mit ihren Besitzern wohnenden Haustiere müssen ihr
Geschäft verrichten. Wie Maulwürfe blicken die Menschen kurz heraus,
gehen wenige Meter mit Hund oder Katze, und schlüpfen wieder in den
Untergrund. Die Gefahr ist oben in der eigentlichen Stadt
allgegenwärtig.
Trotzdem: Sie sind die potenziellen Kunden eines
Mannes, der sich wenige Meter vor dem Metroabgang der Gefahr aussetzt
und auf einem kleinen Campingtischlein Fleischstücke, Blutwurst und
Tomaten verkauft. Hinter ihm bildet ein großes zerbombtes Wohnhaus die
unheimliche Kulisse.
Kleiner Verkaufsstand vor dem Metroabgang in Charkiw
Dass Metrostationen von den Behörden hier als
langfristige Schutzräume zur Verfügung gestellt wurden, verwundert
nicht: Sie kommen damit einem Zweck nach, der ihnen schon jahrzehntelang
planmäßig zugestanden wurde. Die Stationen wurden, wie in der gesamten
Sowjetunion, zu Zeiten des Kalten Krieges auch konzeptuell als
Schutzräume für den Kriegsfall gebaut - auch wenn die Tiefe der Tunnel
hier, im Vergleich zu anderen sowjetischen Städten, aufgrund des hohen
Grundwasserspiegels in der Stadt relativ gering ist. Dass sich die
Menschen hier im sowjetischen Schutzraum nun gerade vor russischen
Raketen und Bomben verstecken müssen, mutet einigermaßen grotesk an.
Viele
der Menschen hier dachten, dass sie nur wenige Stunden oder vielleicht
Tage im Untergrund verbringen müssten. Mittlerweile änderte sich die
Einschätzung grundlegend: Vielfach im Rahmen eines psychologischen
Kraftakts fand man sich mit der Situation ab und richtete sich den
zugestandenen Platz in der jeweiligen Metrostation heimelig ein.
Viele Menschen müssen ihre Tage im Untergrund verbringen
Doch
es wirkt, als gebe es auch hier soziale Unterschiede. Manche haben nur
eine alte Decke, auf der sie liegen können, andere zumindest eine
durchgelegene Matratze. Wieder andere liegen zwischen den Blöcken der
Drehkreuze, die ihnen zumindest als räumliche Begrenzung und Sichtschutz
dienen. Mitunter sieht man sogar aus Kartondeckeln gebaute "Häuser",
die eine räumliche Abtrennung gewährleisten. Einige der neuen kleinen
Heime erinnern an die eigene Kindheit, als man mit Pölstern und Decken
Zeltburgen gebaut hat.
Vereinzelt hausen Familien sogar in
Campingzelten - sie garantieren ein Minimalmaß an Privatsphäre und
schützen sogar vor dem allgegenwärtigen Gestank hier im Untergrund.
Schon fast privilegiert wirkt die Familie, die an einem kleinen
Campingtisch beisammensitzt und gerade eine Mahlzeit genießt. Sogar
Löffel und Gabeln haben sie mit hierher gebracht.
Ukraine-Krieg: Familien hausen vereinzelt sogar in Campingzelten
In der Station
stehen auch Waggons, die ebenfalls als Unterschlupf dienen. Die
Aufschrift auf diesen lässt die Menschen hier herunten noch immer stolz
strahlen: Im Style des hiesigen Fußballaushängeschilds Metalist Charkiw
sind sie gestaltet. Von 2007 bis 2014 wurde der Verein jeweils Dritter
bzw. 2013 sogar Zweiter in der höchsten ukrainischen Liga, im Zeitraum
der Unruhen in der Ostukraine ab 2014 begann auch der sportliche Abstieg
des Vereins. "Wir waren gerade wieder am Kommen", erzählen Menschen
hier immer wieder. "Doch dann kam der Krieg."
Das Leben der
Menschen hier ist trist - und doch versucht man sich auch in dieser
Situation so etwas, wie einen Alltag einzurichten. Kinder nehmen
digital, wenn immer möglich, sogar via Distance Learning am
Schulunterricht teil. Auch Witali hat seinen Laptop auf einen Karton
gestellt, er dient als Bürotisch in Zeiten des Krieges.
UKRAINE-RUSSIA-CONFLICT
© SERGEY BOBOK / AFP
Das Leben der Menschen in der ukrainischen Stadt ist trist
Wie
beschäftigt man sich ansonsten den ganzen Tag hindurch im Untergrund von
Charkiw, während draußen das Artilleriefeuer einen grauslichen Takt
vorgibt? Eine Familie hat einen Mini-Wutzler mit hierher gebracht. Die
meisten Kinder versuchen aber, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ein
kleiner Bursche spielt mit Stofftieren - hier kämpft der Panda
spaßhalber mit dem weiß-orangen Hasen. Unweit von hier kämpfen
ukrainische gegen russische Soldaten.
Bereits hunderte Zivilisten
fielen in den vergangenen drei Monaten in der Oblast Charkiw den
kriegerischen Auseinandersetzungen zum Opfer. Viele verfolgen die
aktuellsten Nachrichten auch weiterhin auf ihren Handys - eine Mischung
aus Thriller, Katastrophen- und Dokumentarfilm live aus der Realität.
Die Orte des Geschehens kennt man aus der eigenen Lebensrealität.
Wochenlang keine Alltagskleider mehr getragen
Manche
hätten hier schon wochenlang keine Alltagskleidung mehr getragen,
erzählt ein junger Mann, der selbst im zerknitterten Hemd in der
Metrostation herumgeht. Tatsächlich: Insbesondere die älteren Menschen
sind mit Sternchen-Pyjama, Kuschel-Pullover und manchmal sogar am
helllichten Tag mit Schlafhaube zu sehen.
Ein älteres Ehepaar ist
gerade vom Mittagsschlaf erwacht. Die Frau lächelt und zeigt stolz die
Blumen, die sie in einer Vase auf einem Karton stehend eingefrischt hat.
Es ist hier in der Metrostation kein seltenes Bild, unzählige Menschen
versuchen mit selbst gepflückten Blumen das triste Bild aufzulockern.
Streunende Tiere in der Stadt
Nebenan
weckt ein kleiner Hund mit seinem Gebell nicht nur die gesamte zuvor
noch schlafende Großfamilie, sondern verschreckt auch die Kleinkatze
wenige Meter entfernt. Sie ist kaum eine Hand groß. Eine vom Kriegsleid
gezeichnete Frau präsentiert stolz den tierischen Nachwuchs: "Sie wurde
hier herunten geboren", erzählt sie. Ein Kätzchen des Krieges also.
Die
Frau hat draußen vor der Station Gras für das Tier gepflückt und spielt
nun durchgehend mit ihm. Nur das Aufheben zur nächsten Kuscheleinheit
missfällt dem kleinen Wollknäuel offensichtlich. Es scheint, als würden
die Tiere manchen Menschen hier überhaupt erst den Mut zum Weiterleben
geben, große andere Perspektiven haben viele hier einfach nicht mehr.
Überhaupt
ist eine große Zahl an Katzen mit herunter gekommen, oft haben ihre
Besitzer sie angeleint. Nicht verwunderlich, denn einerseits würden die
Tiere beim kurzen Gang ans Tageslicht mit all dem Kriegslärm wohl zu
schnell vor Angst weglaufen, andererseits haben andere Haustierbesitzer
sogar ihre Kanarienvögel in Käfigen mit ins vorläufig neue Zuhause
gebracht. Zumindest ein Krieg zwischen den Haustieren soll hier
verhindert werden.
Schicksale der Schutzsuchenden sind nur schwer zu verdauen
Die Schicksale der Schutzsuchenden sind nur
schwer verdauen. Etwa jenes des 52-jährigen Ewgeny, der seit eineinhalb
Monaten unten ist, gemeinsam mit seinem langjährigen Nachbarn. Die erste
Phase des Krieges verbrachte Ewgeny immer wieder kauernd in seinem
Bunker, der einige Meter von seinem Haus entfernt steht. Als es dann zu
gefährlich wurde, flüchtete er nicht ganz freiwillig in den Untergrund.
"Meine Tochter hat mich gezwungen, weil es hieß, dass mein Bunker bei
näherem Beschuss einstürzen könnte", erzählt er. Nun ist er allein. Sein
Sohn ist in Deutschland, seine Tochter in der Türkei. In der eineinhalb
Kilometer langen Straße, in der er eigentlich wohnt, sollen nur noch
sechs Menschen leben. Er weiß das, denn immer wieder verlässt Ewgeny den
Untergrund und geht für einige Minuten nach Hause, um seine Hühner zu
füttern.
Zivilist: "Putin ist ein Idiot. Ich bin ein Gegner von ihm"
"Putin ist ein Idiot. Ich bin ein Gegner von ihm, aber
kein Gegner meines Onkels", sagt Ewgeny mit Blick auf seinen in Moskau
wohnenden Verwandten. "Wir waren Brüder, shit happens", seufzt er
trotzdem. Sich selbst bezeichnet er als "müde und krank". "Irgendwie
sind wir alle schon krank", sagt er unter Verweis auf das lange
Ausharren im Untergrund. Den Optimismus hat er bereits verloren. Der
Krieg werde weitergehen, er könne nicht enden. Sobald es die Lage einmal
zulässt, möchte er aber wieder nach Hause zurückkehren: "Doch wir sind
zurück im Steinzeitalter."
Nach einem Witz über einen Mann vom
Entminungsdienst und einem Fallschirmjäger, die sich in der Luft
treffen, fällt seine Aufmerksamkeit auf den kugelsicheren Helm des
Reporters. "Den kann man als Toilette benutzen", sagt er augenzwinkernd,
bevor er ihn selbst probeweise aufsetzt. Den Humor haben die Menschen
hier trotz des großen Leids meist nicht verloren.