Wenn vom „roten Wien“ die Rede ist, dann ist das oftmals verächtlich gemeint. Dabei sind damit auch bemerkenswerte Errungenschaften verbunden, wie der gemeinnützige Wohnbau, Zugang zu Bildung und die Gesundheitsversorgung. Das sollte man nicht übersehen.
Umso ernüchternder sind jedoch Klassenunterschiede, die sich in der Stadt über all die Jahrzehnte gehalten haben: Dass die einen bessere und die anderen schlechtere Jobs haben, liegt ja noch in der Natur der Sache. Genauso wie der Umstand, dass die einen mehr und die anderen weniger verdienen. Ein großes Stück weit ist jeder seines eigenen Glückes Schmied. Damit ist auch ein gewisser Leistungsanreiz verbunden. Was bis zu einem bestimmten Punkt wiederum schon okay so ist, um nicht zu sagen, gut so ist.
Das Problem ist jedoch, dass dieser „sozioökonomische Hintergrund“ vererbt wird: Jede Bildungsstudie bestätigt beispielsweise, dass es das Schulsystem kaum schafft, Kindern aus einem Elternhaus, in dem weder gelesen noch viel geschrieben wird, auf die Sprünge zu helfen; sie also so zu fördern, dass sie letzten Endes aufsteigen und es eines Tages besser haben.
Oder: Wie die Zahlen der Wiener Magistratsabteilung für Statistik zeigen, gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen Wohnort und Lebenserwartung. Im Nobelbezirk Döbling betrug das durchschnittliche Sterbealter zuletzt 82. Auf der anderen Seite des Donaukanals, im Arbeiterbezirk Brigittenau, handelte es sich lediglich um 74. Das muss man sich vorstellen, das sind acht Jahre, die hier dazwischenliegen.
Und das ist kein Zufall: Abgesehen davon, dass hinter beiden Werten jeweils über 700 Todesfälle stehen, muss man nicht lange googeln, um auf Expertenberichte zu stoßen, die das untermauern: „Die etwas weniger Reichen haben schon eine geringere Lebenserwartung als die ganz Reichen, die ganz Armen haben eine geringere Lebenserwartung als die etwas weniger Armen“, berichtete der Präsident des Ärzte-Weltverbandes, Sir Michael Marmot, 2016 auf dem Forum Alpbach: „Ich kann in London mit dem Rad binnen einer halben Stunde von den reichsten Teilen zu den ärmeren Gebieten fahren. Es gibt einen Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung von 20 Jahren.”
In Wien ist das nicht ganz so extrem, aber ebenfalls erheblich. Und man findet auch die Daten, die dazu passen: In Döbling ist das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen mit fast 40.000 Euro um die Hälfte höher als in der Brigittenau, wo es sich um rund 26.000 Euro handelt. Ähnlich ist das zum Beispiel bei Hietzing und Währing (überdurchschnittliche Einkommen, überdurchschnittliche Lebenserwartung) oder Favoriten und Simmering (unterdurchschnittliche Einkommen, unterdurchschnittliche Lebenserwartung).
Eine Erklärung dafür ist, dass es sich Menschen, die mehr Geld haben, nicht nur besser gehen lassen können, sondern dass sie auch mehr auf ihre Gesundheit achten: Sie ernähren sich vernünftiger, betreiben eher Sport etc. Wobei es jetzt müßig ist, darüber zu diskutieren, woran das im Einzelnen liegt. Der Punkt ist: Bei allen sollte ein ähnlich großes Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich selbst angeregt werden. Und niemand sollte zu einem ungesunden Lebensstil gezwungen sein, der ihn früher sterben lässt.
Das zu dulden, wäre menschenverachtend und zutiefst zynisch. Also gibt es auch einen politischen Auftrag, der damit anfängt, dass im Bildungssystem mehr gefördert und gefordert wird und der dabei endet, dass es eine vernünftige Mindestabsicherung für alle gibt, die beim besten Willen nicht aus lebensgefährlichen Sorgen und Nöten herausfinden.
Johannes Huber betreibt den Blog dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik