Nach zahlreichen wahren Highlights und Skurrilitäten, die der ESC-Zirkus in den letzten Jahren hervorgebracht hat, kann das Event in diesem Jahr dagegen wohl eher als “Song Contest der Mittelmäßigkeit” bezeichnet werden – was nicht unbedingt etwas Negatives bedeuten muss.
Die Leistungen der Künstler sind im Großen und Ganzen betrachtet gut, die Töne werden getroffen und die meisten Lieder gehen auch ins Ohr. Ausgeflippte Bühnenshows und einzigartige Charaktere vermisst man als eingefleischter -Fan dagegen schmerzlich, denn wenn man ehrlich ist, macht doch gerade auch das Skurrile den Gesangswettbewerb jedes Jahr aus.
So wird der 63. Eurovision Song Contest
Was dagegen schon Tradition hat, ist die Auswahl an Effekten, die den Künstlern für ihre Live-Auftritte zur Verfügung steht. So dürfen auch heuer auf keinen Fall Windmaschinen, Lichteffekte und Unmengen an Pyrotechnik fehlen, um dem Abend die richtige Menge Drama zu verleihen.
Auch genretechnisch wird den ESC-Fans wieder eine breite Palette geboten: Von herzzerreißenden Balladen und landestypischen Gesängen, über klassische Rock- und Pop-Nummern und Songs mit Rap-Elementen, bis hin zu tanzbaren Beats ist alles mit dabei. Hierbei soll auch gleich das “Highlight” der Show erwähnt werden: die gackernde Sängerin aus Israel.
Welche weiteren optischen und akustischen Tops und Flops sich bereits bei den ersten Proben herauskristallisierten, haben wir – natürlich rein subjektiv – zusammengestellt.
Die Top-Beiträge beim ESC in Portugal
Taktisch klug: Norwegen schickt dieses Jahr einen echten Profi zum Song Contest nach Portugal. Der Charmebolzen Alexander Rybak konnte das Spektakel bereits im Jahr 2009 mit dem Song “Fairytale” gewinnen, nun will er es ein zweites Mal wissen – und hat laut Buchmachern auch durchaus sehr gute Chancen, erneut für sein Land zu siegen. Seine funkige Eigenkomposition “That’s How You Write A Song” geht sofort ins Ohr und macht gute Laune, die Ausstrahlung des Mädchenschwarms erledigt den Rest. Natürlich darf bei seiner Performance das Markenzeichen des 31-Jährigen nicht fehlen – und deswegen haut er auf seiner Geige ordentlich in die Saiten.
Wie kann es anders sein, auch Schweden findet sich – wie gewohnt – bei den Top-Beiträgen des Song Contests wieder. Das musikalische Talent des diesjährigen Kandidaten liegt wohl in der Familie, denn Benjamin Ingrosso ist der kleine Cousin vom bekannten House-DJ Sebastian Ingrosso. Sein Song “Dance You Off” ist nicht nur catchy und lädt zum Mittanzen ein, er erinnert in leichten Ansätzen an den Stil von Justin Timberlake, was durchaus gefällt. Bei den Wettquoten wird ihm dafür immerhin ein Platz in den Top 10 prognostiziert.
Um gleich bei den nördlichen Ländern zu bleiben, kann Dänemark als nächster Top-Beitrag gelistet werden. Mit dem Titel von Rasmussen schickt das Land Wikinger-Feeling samt rauer Seefahrer-Romantik auf die große ESC-Bühne. Zu “Higher Ground” lässt es sich zwar schlecht tanzen, dafür umso besser stampfen, außerdem sticht das Lied dank düsterer Dramatik und in Kombination mit dem Erscheinungsbild der Sänger definitiv aus der Masse hervor. Auch geschichtlich Interessierte kommen auf ihre Kosten, da der Titel vom Leben des Wikingers Magnus Erlendsson inspiriert ist, der sich bei einer Schlacht weigerte zu kämpfen.
Auch The Common Linnets (“Calm After The Storm”) beehren den Song Contest in diesem Jahr wieder – wenn auch nur zur Hälfte. Für die Niederlande geht Waylon mit feinstem Country an den Start und versucht nach dem zweiten Platz des Duos im Jahr 2014 dieses Mal solo sein Glück. Seine rockige Eigenkomposition “Outlaw In ‘Em” präsentiert sich von Anfang an stark und geht dabei direkt ins Ohr, das Outfit des Sängers komplettiert das Bild des draufgängerischen – und vielleicht auch etwas exzentrischen – Einzelgängers. Laut Wettbüros erreicht Waylon zwar ohne Probleme das Finale, dort wird er aber (leider) nur im Mittelfeld gehandelt.
Eine gackernde “Rubensdame” im bunten Kimono, die in diesem Jahr so gar nicht in das eher ruhige Starterfeld des Song Contests passen will, ist die Künstlerin Netta. Sie geht für Israel an den Start und will mit ihrem Song “TOY” gurrend und tschirpend siegen. Der Mix aus schnellen Beats und orientalischen Klängen macht’s, denn laut Buchmachern liegt die 25-Jährige mit der frischen Elektropop-Nummer ganz vorne. Ihr lockerer Titel soll mit Bezug zur “MeToo”-Debatte aber auch ein ernstens Thema aufgreifen. “Das Lied hat eine wichtige Botschaft: das Erwachen weiblicher Macht und sozialer Gerechtigkeit”, so die Künstlerin mit der Soulstimme.
Um patriotisch zu sein, zählt natürlich auch Cesár Sampsons Beitrag für Österreich zu den absoluten Highlights des 63. Song Contests – und der 34-Jährige muss sich mit seiner souligen Stimme auch definitiv nicht verstecken. Die R’n’B-geprägte Popnummer “Nobody But You” läuft in den heimischen Radiostationen bereits seit der Veröffentlichung im März auf und ab und wurde seitdem auch nicht langweilig. Bei der Bühnenshow bleiben trotz Chor im Hintergrund jedenfalls alle Augen auf ihn gerichtet, wenn er mit Herzblut und ganz in Grau um ein Finalticket für Österreich singt.
Auch unsere Nachbarn schicken in diesem Jahr einen starken Beitrag ins Rennen um die ESC-Krone: Wenn Zibbz mit ihrem Song “Stones” auf der Bühne stehen spürt man die Energie der Geschwister aus der Schweiz. Der Text des Pop-Rock-Songs hat eine ernsthafte Message und klagt das Online-Mobbing und das “Steine werfen” im Internet an. Mit dem Song will man dazu aufrufen, die Menschen einfach so leben zu lassen, wie sie sind. Dass den Geschwistern die Musik im Blut liegt, merkt man bereits zu Beginn des Titels. Laut Buchmachern sieht es aber schlecht für die Schweizer aus, sollen sie den Einzug ins ESC-Finale doch knapp verpassen.
Beim Eurovision Song Contest dürfen natürlich auch tanzbare Beats nicht fehlen, einen der besten Beiträge dazu liefert in diesem Jahr Polen. Mit dem Dance-Elektropop-Stück “Light Me Up” wollen Gromee und Lukas Meijer für gute Laune beim Publikum sorgen und sich so auf Platz eins katapultieren. In den Internet-Foren ist man geteilter Meinung – von Kommentaren wie “toller Song”, über “belanglos”, bis hin zu “einfach schlimm” ist alles mit dabei. Nach persönlichem Empfinden könnte der Titel auch im Radio und in den Clubs laufen, hat er doch Ohrwurm-Potential und verbreitet Summer-Feeling.
Eurovision-Flops: Diese Songs enttäuschen
Neben herausragenden Beiträgen muss es beim Song Contest natürlich auch jene Titel geben, über deren Auswahl man besser noch eine Nacht geschlafen hätte. In diese Kategorie fällt beispielsweise der Song “Taboo” von Christabelle. Zwar spricht die Sängerin aus Malta in dem Stück ein heikles Thema (Verständnis für psychisch kranke Menschen) an, sie kann mit ihrer gesanglichen Leistung aber bei Weitem nicht mit der Konkurrenz mithalten. Auch die Prognosen der Buchmacher verheißen der 26-Jährigen nichts Gutes, da sie den Einzug ins Finale wohl nicht schaffen wird.
Laut aktuellen Wettquoten ist San Marino ebenfalls zum Scheitern verurteilt, denn das Land bildet das absolute Schlusslicht. Der Song “Who We Are” von Jessika Muscat und Jenifer Brening handelt von persönlichen Mobbing-Erfahrungen und könnte auch der “MeToo”-Debatte zugeordnet werden, mehr lässt sich dazu aber auch nicht sagen. Unter’m Strich bleibt eine beliebige Pop-Nummer mit einigen Rap-Elementen – da stehlen sogar die kleinen Roboter auf der Bühne den eigentlichen Künstlerinnen die Show.
Ungewohnt harte Töne liefert in diesem Jahr Ungarn, denn die Nummer “Viszlát nyár” (zu Deutsch: Auf Wiedersehen Sommer) von der fünfköpfigen Band aus Budapest AWS ist Punkrock in seiner reinsten Form. Der Titel hält – zumindest wortwörtlich gesehen – nicht, was er verspricht, denn statt romantischen Sonnenuntergängen erwartet die ESC-Fans ein Song über den Tod. Was für eingefleischte Metal-Fans wahrscheinlich als bester Beitrag in Portugal eingestuft wird, landet hier leider in der Flop-Liste. Zuviel Pyrotechnik, zuviele Lichteffekte, zuviel “Geschrei” – damit war bislang nur die Rockband Lordi beim ESC erfolgreich, und das zurecht.
Ebenfalls zuviel von allem wird der Live-Auftritt von Mélovin aus der Ukraine beinhalten. Rein äußerlich erinnert der 21-Jährige an eine Mischung aus Marilyn Manson (Kontaktlinse sei Dank) und Frankie Muniz (“Malcolm in the Middle”). Fest steht, dass er mit pechschwarz gefärbtem Haar und auffälligem Kleidungsstil zu den ganz speziellen Typen beim diesjährigen Song Contest gezählt werden kann. Beim Landes-Vorentscheid sorgte eine brennende Treppe und ein Klavier samt Chor für ordentlich Dramatik, vielleicht fängt Mélovin im zweiten Halbfinale ja auch selbst Feuer. Bei sovielen Effekten gerät das gesangliche Talent jedenfalls leider in den Hintergrund.
Wirft man einen Blick auf den Vorjahres-Teilnehmer Italiens, steht man dem aktuellen Beitrag eher skeptisch gegenüber. Francesco Gabbani verbreitete mit seiner Pop-Nummer “Occidentali’s Karma” viel gute Laune, “Non mi avete fatto niente” (zu Deutsch: Ihr habt mir nichts antun können) von Ermal Meta und Fabrizio Moro stellt dazu das krasse Gegenteil und wirklich starken Tobak dar. Zwar ist der Song ein wichtiges Plädoyer gegen den Terror und das Duo erinnert darin an die Opfer der jüngsten europaweiten Anschläge, ob der Sprechgesang ohne die gewohnte italienische Leichtigkeit auch bei den Zuschauern gut ankommt, wird sich erst zeigen.
Auch der Beitrag von Island kann nicht überzeugen. Ari Ólafsson möchte sich mit dem Titel “Our Choice” ein Ticket für das große Song Contest-Finale sichern, laut Wettquoten dürfte er dieses Ziel jedoch nicht erreichen. Der erst 19-jährige Mädchenschwarm mag zwar ein sonniges Gemüt haben und auch während seiner gesamten Performance hindurch strahlen, der Dauergrinser kann aber nicht von der schwachen Ballade ablenken, mit der er an den Start geht.
Und zum Abschluss: Was wäre der Song Contest ohne quietschbunte und anstrengende Show-Einlage? Genau, langweilig. Deswegen schickt Moldau das Trio DoReDoS nach Portugal, um mit dem Beitrag “My Lucky Day” alle gängigen ESC-Klischees zu bedienen. Eigentlich als Party-Song mit Ethno-Elementen angedacht, hat das Ganze dann doch einen billigeren Beigeschmack als wahrscheinlich gewollt. Wenigstens etwas Gutes hat der Beitrag: der Eurovision Song Contest bleibt bunt.
(Red/)