
Manchmal sagen Zahlen mehr als viele Worte:
„Es war ein regelrechter Kahlschlag“, sagt der Medizinhistoriker Herwig Czech. Besonders die Kinderheilkunde und die Psychologie seien betroffen gewesen. Gemeinsam mit dem Kurator Niko Wahl hat Czech nun eine Ausstellung im Wiener Josephinum erdacht: Die Wiener Medizinische Fakultät 1938 bis 1945 will – zum 80. Jahrestag – die Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtübernahme auf die Wiener Medizinische Fakultät zeigen und wurde am 13. März 2018 im Rahmen des internationalen Symposiums „Anschluss“ im März 1938: Nachwirkungen auf Medizin und Gesellschaft eröffnet.
Historiker wissen mittlerweile, dass die österreichischen NS-Machthaber viel radikaler und schneller als die NS-Kriminellen in Deutschland waren: Mit 1. Oktober 1938 wurde bereits die „Entjudung der österreichischen Ärzteschaft“ verkündet. Czech: „50 Prozent der Professoren wurden damals ersetzt und 1000 Studenten vertrieben“. Die Folgen waren katastrophal: „Es kam zu einer Zerstörung des Gesundheitswesens und zu einem Anstieg der Todesfälle“.
Der Kahlschlag hatte auch Auswirkungen auf die Ausbildung: „Das Vorlesungsverzeichnis an der Universität wurde bedeutend kürzer“, sagt Christiane Druml, die Direktorin des Josephinum. Mit anderen Worte: Die Ausbildung des Ärztenachwuchs litt.
Die Ausstellung behandelt die Vorgeschichte von Antisemitismus und Rassismus bereits vor der NS-Zeit, die direkten Auswirkungen des März 1938, die Vertreibung eines großen Teils der Fakultätsangehörigen und die dadurch ermöglichten Karrieren von NS-Parteigängern. Die ideologische Durchdringung der Fakultät mit dem Gedankengut der NS-„Rassenhygiene“, Zwangssterilisationen und verbrecherische Menschenversuche werden ebenso behandelt wie die zunehmende Militarisierung von Studium und Forschung im Zuge des Krieges.
Und danach? Von 29 Professoren der Medizinischen Fakultät in Wien waren 24 nach 1945 von der Entnazifizierung betroffen. Die Chance einer „Stunde Null“ ist damals vertan worden – auch weil nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes teilweise politisch aus dem Austrofaschismus stammende, antisemitische Personen an die Machthebel der Wissenschaftspolitik in Österreich kamen. Es sollte bis in die Mitte der 1990er-Jahre dauern, bis erste Untersuchungskommissionen die Vorgänge an den Unis aufarbeiteten – etwa den Fall des Anatomen Eduard Pernkopf (Vorstand des Anatomischen Instituts, ab 1938 zuerst Dekan, dann Rektor), der für seinen weltbekannten Anatomie-Atlas auf die Leichen von NS-Opfern zurückgegriffen hatte.
Foto: /© Reiner Riedler/Josephinum
Die Akten der so genannten Pernkopf-Komission
Wie eine Untersuchungskommission später herausfand, war der Atlas allerdings nur die Spitze eines Eisbergs. Das Wiener Anatomische Institut hatte während des Krieges die Leichen von mindestens 1377 Hingerichteten erhalten, darunter viele Kämpfer gegen das nationalsozialistische Regime.
Die Zeit des Nationalsozialismus markiere den historischen Tiefpunkt in der Entwicklung der österreichischen Medizin, die Aufarbeitung sei noch lange nicht abgeschlossen, meint Josephinum-Direktorin Druml und findet es „indiskutabel, dass es bisher kein ständiges Gedenken an die NS-Opfer der Fakultät gibt“. Sie will das ändern und eine Dauerausstellung ins Leben rufen, die allen Angehörigen der medizinischen Fakultät, denen Unrecht, Gewalt und Willkür durch die Nationalsozialisten angetan wurde, gewidmet sein soll. „Niemals wieder soll und darf Derartiges passieren – das muss unsere Leitlinie für die Zukunft sein“.
INFO: Die Wiener Medizinische Fakultät 1938 bis 1945 – Ausstellung, Josephinum, Währinger Straße 25, 1090 Wien,
14. März 2018 bis 6. Oktober 2018
