“Wir wollten nicht ein neues Thema hervorbringen, um das Werk Schieles zu erklären”, erläuterte Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold Museums, am Freitag im Rahmen der Pressekonferenz der neuen Schau zum Gedenken an Schieles 100. Todestag. Vielmehr sei man sich des Facettenreichtums in Schieles Schaffen bewusst, weshalb man sich für eine thematische Auseinandersetzung entschieden habe. Eine Besonderheit, die alle drei Monate zu einem erneuten Besuch der Ausstellung einladen soll, ist der in diesem Intervall wechselnde Bestand der Zeichnungen und Aquarelle, da diese aus konservatorischen Gründen nicht bis zum Ende der Schau am 4. November in den Ausstellungsräumen verbleiben können. “Eigentlich entstehen dadurch gleich drei Ausstellungen”, zeigte sich Wipplinger sichtlich angetan.
“Es geht weniger darum zu zeigen, was das Haus alles hat, sondern darum, dass die Besucher einen zeitlichen und seelischen Platz finden, sich alles in Ruhe anzuschauen”, erklärte Sammler-Sohn und Kurator Diethard Leopold die lockere Hängung der Objekte, die sowohl aus der Sammlung Leopold als auch aus der sogenannten “Sammlung II” stammen, die sein Vater Rudolf Leopold nach der Übergabe an die Stiftung angelegt hat. Durch die thematische Anordnung vom “Ich” über “Mutter und Kind”, “Spiritualität” und “Frauen” bis hin zu “Landschaften” und “Städtebildern” habe sich auch eine gewisse Chronologie ergeben, die jedoch auch immer wieder durchbrochen werde.
Von Schiele empfangen
Empfangen wird der Besucher in der großen Halle im ersten Untergeschoß von drei monumentalen Gemälden Schieles, denen viel Raum zum Atmen bleibt. Im Zentrum findet sich dabei Schieles “Sitzender Männerakt (Selbstdarstellung)” aus dem Jahr 1910, flankiert von den Großformaten “Entschwebung” (“Die Blinden” II) von 1915 und dem 1912 entstandenen “Die Eremiten”, über dessen Lesart sich Leopold und Wipplinger scherzhaft öffentlich stritten, da Leopold in der zweiten dargestellten Person nicht wie in der Forschung angenommen Gustav Klimt sieht, sondern eine zweite Version von Schiele selbst. Um diese Theorie zu untermauern, habe er sich an seine Kindheit zurück erinnert und sich mit einem kleinen Schemel vor das Gemälde gesetzt, um es aus anderer Perspektive neu zu betrachten, so Leopold, der mit zahlreichen Bildern sichtlich viele Kindheitserinnerungen verbindet. So sei einem guten Freund in seiner Schulzeit etwa für sechs Wochen verboten worden, das Leopold’sche Haus zu besuchen, nachdem das Kind zu Hause von den im Haus hängenden expliziten Akten erzählt hatte.
70 Gemälde und 70 Zeichnungen
70 Gemälde und 70 Zeichnungen bzw. Aquarelle sind nunmehr zu sehen, anhand derer sich ein Spaziergang durch das kurze Leben Schieles unternehmen lässt, der am 31. Oktober 1918 im Alter von 28 Jahren starb. Neben den zahlreichen Selbstdarstellungen lernt man im Raum “Spiritualität” auch den nachdenklichen, dem Okkulten zugewandten Schiele kennen, der sich nach seiner Haft im Jahr 1912 neue Fragen stellte. In dem Gemälde “Kardinal und Nonne” (“Liebkosung”) aus diesem Jahr will Diethard Leopold gar eine weibliche Selbstdarstellung des Künstlers erkennen.
“Die Freunde” als Höhepunkt
Zu den Höhepunkten der Schau, die auch mit internationalen Leihgaben bestückt ist, zählt etwa das Gemälde “Die Freunde (Tafelrunde)” aus einer Privatsammlung in Cincinnati, das man in einem Kabinett mit dem Plakat zur 49. Secessions-Ausstellung konfrontiert, das dasselbe Sujet zeigt – bloß der Sessel des kurz zuvor verstorbenen Gustav Klimt ist hier unbesetzt. In unmittelbarer Nachbarschaft findet sich Porträt des Dr. Erwin von Graff aus der Neuen Galerie New York, das seit 1930 nicht mehr in Österreich war. Es zeigt jenen Arzt, der Schiele einst gestattete, Neugeborene und kleine Kinder zu malen. Abgerundet wird der Rundgang durch zahlreiche Fotos und Briefe in den minutiös gestalteten Schauräumen, die den Besuchern den Menschen Schiele näherbringen sollen. Immer wieder werden auch Gedichte eingestreut, die einen erweiterten Blick auf das jeweilige Thema ermöglichen. So heißt es im Landschaftsraum: “Ich kehre ein in den rotschwarzen / Dom des dichten Tannenwaldes, / der ohne Lärmen lebt und / misch sich anschaut. / Die Augenstämmen die dicht / sich greifen und die sichtbare / nasse Luft ausatmen. – / Wie wohl! – Alles ist / lebend tot.”
“Absturzträume” mit anderen Künstlern
Einen Stock tiefer hat Kurator Roman Grabner die bis zum 11. Juni laufende Schau “Absturzträume” geschaffen, in denen er Schieles zeichnerisches Werk zwei Künstlern aus späteren Generationen gegenüberstellt: Das ist einerseits das ebenso radikale Werk von Günter Brus, der heuer im Herbst seinen 80. Geburtstag feiert, andererseits der 1967 geborene Thomas Palme, dessen zeichnerisches Werk ebenfalls von “Zurückweisung, Ausgrenzung und zermürbenden Gerichtsprozessen” durchsetzt ist und laut Grabner Schieles Linie fortführt. Um diese Verwandtschaften herauszuarbeiten, hat Grabner nicht nur jedem der Künstler eine eigene, dicht gehängte Wand gewidmet, sondern stellt die Arbeiten unter den Gesichtspunkten “Existenz”, “Provokation” und “Sexualität” direkt gegenüber. “Ich will zeigen, wie sich der Mythos fortgesetzt hat”, erläuterte er bei der Presseführung. Alle drei Künstler seien manische Zeichner (gewesen), haben sich mit Körpern, der Ambiguität der Geschlechter und zu ihrer jeweiligen Zeit vorherrschenden Vorstellungen von Moral und Sitte auseinandergesetzt. Also doch ein neuer Blickwinkel, der Schieles Werk in einen neuen Kontext setzt.
(APA/red)