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Wer mit Volksvotum spielt, endet im Brexit

9-12-2017, 06:00

Es war eine der wenigen politischen Niederlagen, die Sebastian Kurz bislang einstecken musste. Was Kurz wollte, sei „wie ein heißer Eislutscher, wie zögernde Schnelligkeit“, wetterte der Chef der  schwarzen Senioren, Andreas Khol, am ÖVP-Parteitag 2015. Kurz wollte als Chef der Jungen ÖVP die Partei in ihrem neuen Programm endlich auf ein  Ja zum Mehrheitsrecht festlegen – mithilfe eines etwas bizarren Modells: Die stimmenstärkste Partei sollte die Mehrheit der Parlamentssitze minus eines Mandats erhalten. Damit wäre die  Nummer 1 mandatsmäßig zwar gestärkt, müsste sich aber in jedem Fall einen Koalitionspartner suchen. Khol obsiegte mit seinen Bedenken, die Kurz-Idee fiel durch.

Zwei Jahre danach will Kurz als Chef  der nunmehr  stimmenstärksten Partei ein weitaus riskanteres  Experiment starten. ÖVP und FPÖ wollen  Parteien, Lobbys und kampagnelüsternen Medien die Tür zur Stimmungsmache weit aufmachen: Schon ein paar hunderttausend Unterschriften sollen reichen, um künftig  Volksabstimmungen zu erzwingen. Offen ist nur noch, ob vier (FPÖ) oder zehn (ÖVP) Prozent der stimmberechtigten Bürger reichen, um ein Plebiszit zu erzwingen. Und ob es eine Untergrenze der Beteiligung  geben soll, damit das Volksabstimmungsergebnis als unwiderruflich gilt. Zuletzt war von  40 Prozent  Mindestteilnahme die Rede.  

Berner Minister warnt vor Schweizer ModellSicher ist, dass Türkis-Blau die politische Architektur massiv umbauen will. Grundsätzliche Bedenken von Politikern oder Verfassungsjuristen werden gerne mit Verweis auf die Schweiz vom Tisch gewischt. Hinweise, dass die Schweiz und Österreich außer ihrer überschaubaren Größe wenig gemeinsam haben, werden gerne als letzte Zuckungen des überkommenen „alten Systems“ abgetan.
Umso bemerkenswerter sind die offenen Worte, mit denen der Außenminister der Schweiz dieser Tage am Rande der OSZE-Konferenz in Wien  davor warnte, das Schweizer Modell zu übernehmen. Die direkte Demokratie sei eine „Revolution“, „mit Gefahren verbunden“  und kein „Kinderspiel“, formulierte der Schweizer Chefdiplomat Ignazio Cassis ungewöhnlich undiplomatisch.

Zwar seien sich Schweiz und Österreich  bei Sprache und Geografie ähnlich, ansonsten seien die Länder aber komplett verschieden. Die Schweiz sei „gegen die Habsburger als Gegenmodell zu Österreich entstanden“. Die Österreicher seien auch hundert Jahre nach der Kaiserzeit „an eine hohe Machtkonzentration gewohnt“ und „die Genetik des Volkes ändert sich nicht so schnell“.     
Sebastian Kurz’ Ministerkollege plädiert so für einen behutsamen Übergang von der rein parlamentarischen zur plebiszitären Demokratie. Denn wie fatal   ein politisches Spiel mit Volksabstimmungen enden kann, habe jüngst Großbritannien bewiesen, so der Schweizer Außenminister: "Wir haben eine Art direkte Demokratieübung in England mit dem Brexit erlebt. Das ganze Land erwachte am nächsten Tag wie aus einem Albtraum und jetzt haben sie das Problem, das umzusetzen.“ 

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