Die Sehnsucht ist ein gieriges Gefühl. Sie kümmert sich nicht um das Jetzt. Nicht um das, was möglich, machbar oder richtig ist. Die Sehnsucht verklärt. Sie legt sich wie ein Filter über die Erinnerung. Alles, was Ecken und Kanten hatte, wird weichgezeichnet im Nachhinein. Alle Konflikte, die einst den Tag zerrissen haben, verschwinden, werden ersetzt von den innigen Nächten, in denen man bis zum Morgengrauen übereinander wachte. Alles, was niemals gepasst hat, wird von ihr passend gemacht. Die Sehnsucht ist eine Verbündete der Nostalgie.
Vor ein paar Tagen lief ich durch Wien, weil ich die Wartezeit bis zum nächsten Termin überbrücken musste. Und weil ich in Gedanken war, verlief ich mich. Plötzlich stand ich in einer Gasse, deren gelbe, weiße und graue Altbauhäuser mir bekannt vorkamen, deren Schlaglöcher mit vertraut waren, deren Geruch ich kannte, ohne sofort zu wissen, woher.
Ich stand vor meiner ersten Wohnung, die ich vor bald 20 Jahren gemeinsam mit drei Freunden bezogen hatte. Der Lack an der Eingangstür war noch immer abgeblättert und unter den Namensschildern an den Klingeln waren die Kerben, die wir eines Nachts nicht mehr ganz nüchtern mit unserem Haustorschlüssel eingeritzt hatten. Es waren die vier krakeligen Anfangsbuchstaben unserer Vornamen, die man noch immer erkennen konnte.
Und plötzlich war alles wieder da. Die durchwachten Nächte mit billigem Wein und Salzgebäck vor dem Plattenspieler. Das Klopfen der Nachbarn, die sich manchmal überreden ließen, sich auf ein Glas zu uns zu setzen und von ihrer ersten Wohngemeinschaft erzählten. Dosenravioli und Kaffee zum Frühstück und das Wettrennen zur Straßenbahn, um die Vorlesungen nicht zu versäumen.
Ich stand vor dem Hauseingang, ich weiß nicht wie lange und die Sehnsucht überkam mich. Nach damals als alles noch unerzählt war und nichts unmöglich schien. Ich suchte in meinem Telefonbuch nach den Namen meiner drei Komplizen, die ich aus den Augen verloren, aber nie vergessen hatte. Eine Nummer war nicht mehr gültig, eine andere lief ins Leere. Ein Freizeichen ohne Lebenszeichen. Die dritte führte zu meinem damaligen Mitbewohner.
Er erkannte meine Stimme sofort, freute sich, sie zu hören. Er hat jetzt zwei kleine Kinder und konnte nicht lange telefonieren. „Die Kleine schläft schlecht“, sagte er und erzählte vom Vatersein und plötzlich war ich wieder in der Gegenwart angekommen. Wir waren keine großen Kinder mehr, auf die Acht gegeben wurde.
Wir mussten nun selbst erwachsen sein. Trösten, aufpassen, versorgen. Ein Treffen? Gerne! „Rufen wir uns zusammen!“ Eines jener Versprechen, von denen man weiß, man wird sie niemals einlösen. Ich sah auf die Uhr. Ich hatte meinen Termin versäumt. Die Sehnsucht hatte mir einen Streich gespielt.
Man kann die Vergangenheit nicht konservieren. Nicht in einer Schublade bunkern, die man nach Jahren öffnet und den Staub wegwischt. Was war, ist vorbei. Aber wenigstens, dachte ich mir und fuhr mit den Fingerkuppen über unsere Initialen in der Hauswand unter den Namensschildern, gibt es einen Beweis, dass es wirklich war. Dass wir da gewesen sind. Daran kann man denken, wenn einen die Sehnsucht wieder überwältigt.
