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Regentage

22-09-2017, 06:00

Mitte der Woche stand ich mittags unter dem Vordach einer Bäckerei, aß ein mürbes Kipferl, sah in den Regen hinaus und dachte mir, was in den missmutigen Blicken fast aller mit mir unter dem Vordach wartenden geschrieben stand: wann hört es endlich wieder auf? Seit Wochenbeginn regnete es. Regen in der Stadt bedeutet, dass das Grau der Wolken mit dem Grau der Häuser wetteifert und schließlich mit dem des Asphalts verschwimmt. Als würde man die Straßenzüge, die kleinen Gassen und Fassaden, die Märkte und die Autokolonnen  durch eine schmutzige Milchglasscheibe sehen. In der Stadt schlägt mir der Regen aufs Gemüt. Da hilft auch das beste mürbe Kipferl nicht. Gerade als ich mir die Kapuze wieder tief ins Gesicht zog, den Griff des Schirms umklammerte und los wollte, kam plötzlich ein junger Mann über die Straße auf mich zugerannt. Er war vielleicht Anfang 20, trug einen schwarzen Stoffmantel mit goldenen Knöpfen wie ein Seemann und war von oben bis unten durchnässt.   

Er stellte sich neben mich unter das Vordach. Warf dann einen suchenden Blick in die Bäckerei, fuhr sich nervös durch die nassen dunklen Haare und holte schließlich sein Handy hervor. So gut es ging wischte er mit dem feuchten Ärmel seine Wange trocken, wählte und wartete. Nervös und angespannt.  „Ja“, keuchte er noch immer etwas außer Atem, aber fröhlich. „Ich bin schon da.“

Schlagartig veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Sein Lächeln verschwand, sein Mund verzog sich enttäuscht und seine Stirn legte sich in Falten. „Ach so “, sagte er nur und bemühte sich gelassen zu klingen und die Gefühle zu verbergen, die man ihm aus nächster Nähe so schmerzlich ansah.

Die Schultern gesenkt

„Macht nix.“ Und sein Blick verriet, dass es ihm viel ausmachte. „Kein Stress, Anna. Dann halt das nächste Mal.“ Er verabschiedete sich und legte auf. Und wie er da so stand, die Schultern gesenkt, den Blick nach unten auf den nassen Asphalt gerichtet, hätte ich ihn gerne gefragt, warum er gelogen hatte. Und konnte mir die Antwort vorstellen. Wie oft hatte man selbst schon gelogen, hatte sich in schlecht gespielte Tapferkeit geflüchtet, hatte nichtssagende Phrasen zitiert, statt zu sagen, was wirklich war. Wie schwer solche Bekenntnisse fallen und sie werden immer schwerer, immer unsagbarer in einer Zeit, in der sie oftmals nur noch als Fremd- und Selbstentblößung wahrgenommen werden.

„Ich bin einsam“, hatte meine Taufpatin eines Abends am Balkon zu mir gesagt, nachdem sie nach dem Tod meines Paten jahrelang Familientreffen mied so gut es ging und ich sie regelrecht belagert hatte, um sie doch endlich zu sehen. „Jetzt hab ich zehn Jahre gebraucht, um das zu sagen.“ Sie hatte gelacht und es hatte wie ein Schluchzen geklungen und doch irgendwie froh und erleichtert. Ich dachte an sie und an dieses Lachen als ich den jungen Mann neben mir betrachtete und wünschte ihm, dass es nicht so lange dauern würde, bis er sagen könnte, was er fühlte. Und ein bisschen wünschte ich es auch mir. Er zog seinen Mantel etwas enger um sich und machte sich entschlossen auf, zurück in den Regen. Und ich hätte ihm gerne meinen Schirm angeboten. Aber ich hab mich dann doch nicht getraut.

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